Bonjour La France


Gestern habe ich die Nerven verloren und nach gut 2000 Kilometern an meinem Fahrrad das Kettenblatt und die Kette gewechselt. Nicht weil sie verschlissen gewesen wären, sondern ich habe das deutlich kleinere Kettenblatt aufgesetzt, das ich eigentlich für die Berge dabei habe, um kleinere Übersetzungen zur Verfügung zu haben und es mir so an den Steigungen etwas einfacher zu machen. Inzwischen bin ich seit etwas mehr als einer Woche in Frankreich unterwegs und habe die Normandie fast hinter mir. Es ist ja nicht so, dass die Berge hier besonders hoch wären – über 150m bin ich kaum hinausgekommen – aber das ständige Auf und Ab lässt schon mal die Oberschenkel brennen, wenn es mit vollem Gepäck bei bis zu 14% Steigung aus einem Ort hinaus auf die nächste Klippe geht. Mers-les-Bains hatte ich am letzten Tag des August die Grenze zur Normandie erreicht und damit die bis dahin absolut flache Strecke seit meinem Start verlassen. Bis hierhin zogen sich an der französischen Küste überwiegend die schier endlosen Sandstrände, wie ich sie schon aus den Niederlanden und Belgien kannte. Und dann, wie aus dem Nichts wechselt die Landschaft. 100m hohe Kalksteinfelsen statt (langweiliger) Sandstrände. Das gibt völlig neue Perspektiven, aber eben auch mit jedem Einschnitt in diese Felsküste, wo dann ein kleiner, in aller Regel sehr schöner, alter Badeort (mit kleinem Strand) liegt, aus dem es dann wieder steil auf das Plateau auf den Klippen hinausgeht.


 

Die endlosen Sandstrände setzen sich auch in Frankreich fort
Die endlosen Sandstrände setzen sich auch in Frankreich fort
Der Traum vom kleinen Häuschen direkt am Meer - es sind aber hunderte in einer Reihe
Der Traum vom kleinen Häuschen direkt am Meer - es sind aber hunderte in einer Reihe
Endlich Abwechslung - aber mit den langen Kalksteinklippen fangen auch die kurzen, aber steilen Anstiege an
Endlich Abwechslung - aber mit den langen Kalksteinklippen fangen auch die kurzen, aber steilen Anstiege an


So sehr viel passiert ist in den Tagen, in denen ich hier in Frankreich unterwegs bin, nicht. Einerseits ist es ja gut, wenn tatsächlich nichts passiert – im Sinne von irgendwelchen Schäden, Unfällen oder sonstigen unangenehmen Ereignissen. Andererseits sind die besonderen Ereignisse ja auch immer das Salz in der Suppe einer solchen Reise. Aber ich befinde mich in Europa und noch dazu an der Küste der Nordsee, der Ärmelkanals und des Atlantiks, und die ist nun einmal durch und durch touristisch erschlossen. Einkaufen im Supermarkt, Essen im Restaurant oder einem Imbiss, Übernachten auf einem der zahllosen Campingplätze. Alles ganz normal. Und die Menschen sind auf den Tourismus eingestellt und auch Radreisende erregen hier keinerlei besondere Aufmerksamkeit. Man wird professionell bedient, gepaart mit dem Blues, der sich auch beim Personal am Ende der Saison einstellt. Und auch die Naturerlebnisse halten sich in einer intensiv landwirtschaftlich genutzten Gegend sehr in Grenzen. Da ist es schon ein absolutes Highlight, wenn man nachts in seinem Zelt von einem Grunzen und Schnauben unmittelbar neben seinem Kopf geweckt wird und sich im Vorzelt ein Igel für die Packtasche mit den Lebensmitteln interessiert. Ein schnelles Foto, auf die Aufforderung das Zelt zu verlassen rollt er sich in Igelmanier erst einmal ein und gibt dann Gas und ist schnell im nächsten Gebüsch verschwunden, als ich freundlich aber bestimmt aus dem Zelt hinausgeschoben habe.



Ein unerwarteter nächtlicher Besuch im Vorzelt
Ein unerwarteter nächtlicher Besuch im Vorzelt


Die Großstädte, durch die ich komme, sind auch nicht wirklich sehenswert. Zuerst Calais mit seinen riesigen Fähranlagen, aber mit einem herausragenden Rathaus. Dann kommt Le Havre, der zweitgrößte Hafen Frankreichs mit einem entsprechenden Umfeld. Allerdings ist Le Havre UNESCO-Weltkulturerbe. Und zwar eines von zweien dieser Art auf der Welt. Le Havre wurde neben Brasilia ausgezeichnet für die Stadtplanung und -anlage aus dem 20. Jahrhundert. Man muss dazu wissen, dass Le Havre von den Alliierten nahezu vollständig bei Kampf gegen die deutsche Wehrmacht zerstört und in den 40er und 50er Jahren neu geplant und modern wieder aufgebaut wurde – in Beton. Bunter Beton immerhin. Ich hatte nicht viel erwartet und wurde darin bestätigt. 



Das Rathaus will irgendwie so überhaupt nicht zu Calais passen
Das Rathaus will irgendwie so überhaupt nicht zu Calais passen
Le Havre - Nachkriegsarchitektur in (bunten) Beton gegossen - so kann UNESCO-Weltkulturerbe aussehen
Le Havre - Nachkriegsarchitektur in (bunten) Beton gegossen - so kann UNESCO-Weltkulturerbe aussehen
Selbst die Kirche passt sich in diese Architektur an
Selbst die Kirche passt sich in diese Architektur an


Nur schnell weg. Immerhin hat Le Havre ein kleines Highlight zu bieten, wenn man die Stadt in Richtung Süden verlässt. Dann muss man nämlich die die Pont de Normandie die Seine überqueren. Die Brücke hat eine Durchfahrthöhe von min. 52m und ist die längste Schrägseilbrücke Europas. Es gibt nicht so viele Brücken dieser Art, die man mit dem Fahrrad befahren darf. Und dazu kam das Glück für mich, dass der Wind relativ schwach wehte und noch dazu der rechte Fahrstreifen in Richtung Süden für Wartungsarbeiten gesperrt war, sodass ich mich nicht auf den schmalen Radfahrstreifen beschränken mussten und zum Fotografieren fast in die Mitte der Brücke konnte.



Auf dem Weg aus Le Havre hinaus komme ich an dieser gigantischen Massenproduktion (vermutlich von Fundamenten für Windkraftanlagen) vorbei
Auf dem Weg aus Le Havre hinaus komme ich an dieser gigantischen Massenproduktion (vermutlich von Fundamenten für Windkraftanlagen) vorbei
Da soll ich rüber: Die Pont de Normandie ist die längste Schrägseilbrücke Europas
Da soll ich rüber: Die Pont de Normandie ist die längste Schrägseilbrücke Europas
Es sieht fast so aus, als hätten sie die Brücke für mich freigehalten
Es sieht fast so aus, als hätten sie die Brücke für mich freigehalten


Die ganze Nordsee- und Atlantikküste ist ein durchgehendes Mahnmal gegen das Vergessen der Gräuel der großen Kriege des vergangen Jahrhunderts. Zahllose Bunkeranlagen säumen die Strände und die Straßen, überall Gedenkstätten, Kriegsgerät und die riesigen Soldatenfriedhöfe für die Gefallenen Soldaten des ersten und des zweiten Weltkrieges. Auf drei dieser Anlagen war ich und habe allein die Masse der Gräber auf mich wirken lassen – es ist nicht vorstellbar, was sich hier ereignet hat und was in den Menschen vorgegangen sein muss, die die Befehle gaben oder diese ausführen mussten. Beide im Bewusstsein einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, junge Männer, für die man Verantwortung trägt in den Tod zu schicken bzw. dem Tod direkt ins Auge zu sehen. Mehr als 11.000 Gräber auf dem Commonwealth-Friedhof von Etaples aus dem ersten Weltkrieg, weitere 4.000 für britische Soldaten in Bayeux und dann noch die beeindruckendste und bedrückendste Anlage für 10.000 gefallene amerikanische Soldaten an der Omaha-Beach. Ich war in keinem der Museen, aber der Bilder der Friedhöfe haben sich eingebrannt.


 

Die gesamte Küste ist gespickt mit den Bunkern des "Atlanikwalls" aus dem 2. Weltkrieg
Die gesamte Küste ist gespickt mit den Bunkern des "Atlanikwalls" aus dem 2. Weltkrieg
Auch das allgegenwärtige Kriegsgerät der Alliierten Truppen hält die Erinnerung an die Geschichte wach
Auch das allgegenwärtige Kriegsgerät der Alliierten Truppen hält die Erinnerung an die Geschichte wach
Selbst Fahrräder kamen im Krieg zum schnellen Vorrücken nach der Landung in der Normandie zum Einsatz
Selbst Fahrräder kamen im Krieg zum schnellen Vorrücken nach der Landung in der Normandie zum Einsatz
Der britische Militärfriedhof in Bayeux - neben ca. 4000 Soldaten des Commonwealth wurden hier auch ca. 400 deutsche Gefallene begraben
Der britische Militärfriedhof in Bayeux - neben ca. 4000 Soldaten des Commonwealth wurden hier auch ca. 400 deutsche Gefallene begraben
Die Masse der Kreuze auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof macht in ihrer Schlichtheit betroffen und sehr nachdenklich
Die Masse der Kreuze auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof macht in ihrer Schlichtheit betroffen und sehr nachdenklich
Mahnmale, Museen und Gedenkstätten säumen die Nordküste der Normandie
Mahnmale, Museen und Gedenkstätten säumen die Nordküste der Normandie


Omaha-Beach wird mir auch deswegen in Erinnerung bleiben, weil ich hier auf Abwege geraten bin. Ich folgen hier weitgehend der internationalen Veloroute 4, die hier sehr gut ausgeschildert ist und einen abseits der Hauptstraßen durch Europa bringt. Zusätzlich nutze ich eine App, die auch diesen Fernradwanderweg genau anzeigt. An der Ohmaha-Beach endete die Wegweisung, die App wies aber eindeutig eine Fortsetzung parallel zum Strand an. Also glaube ich mal der App und schiebe das Rad durch eine kleine Sanddüne auf den schmalen Pfad. Zuerst lässt es sich auf dem spärlichen Bewuchs noch ganz gut fahren. Aber dann wir der Weg immer schmaler, das Gras wechselt zu weichem Dünensand und ich muss mühsam schieben – ein Wenden wäre kaum möglich, weil der eingezäunte Weg hierzu zu schmal ist. Und es bleibt die Hoffnung auf Besserung. Die kommt aber nicht und ich nehme die erste sich bietende Abzweigung. Asphalt. Auch keine wesentliche Hilfe, wenn von beiden Seiten Brombeeren, Disteln und Brennnesseln den Weg unbefahrbar machen und auch hier Schieben angesagt ist – allerdings jetzt steil bergauf, teilweise mit Treppen. Nach einer Stunde stehe ich völlig fertig und mit zerkratzten Beinen wieder am Ausgangspunkt und fahre auf der Hauptstraße zum Soldatenfriedhof der Amerikaner, der direkt oberhalb meiner Schiebeetappe liegt.


 

Immerhin ist der Weg an der Ohmaha-Beach hier noch so breit, dass man zum Schieben Platz neben dem Rad hat
Immerhin ist der Weg an der Ohmaha-Beach hier noch so breit, dass man zum Schieben Platz neben dem Rad hat
Omaha-Beach vom Soldatenfriedhof aus gesehen - und in dem Gestrüpp habe ich mich verheddert und verkratzt
Omaha-Beach vom Soldatenfriedhof aus gesehen - und in dem Gestrüpp habe ich mich verheddert und verkratzt


An den Küsten der Normandie dominiert der Tourismus. Aber je weiter ich auf der Halbinsel vorankomme, desto kleiner werden die Ortschaften und desto schöner werden die mittelalterlichen Innenstädte. Ein Ausreißer in dieser Hinsicht ist Cherbourg an der Nordseite der Normandie – wieder eine dieser Hafenstädte mit großem Fährterminal. Die Westseite hat nicht so viel zu bieten und so gebe ich Gas, um nach Mt. St. Michel zu kommen und dann in die Bretagne zu wechseln.

Wenn man der Euro-Veloroute 4 allerdings konsequent folgt, muss man auch aufpassen, dass man nicht einige er Sehenswürdigkeiten an der Strecke auslässt, weil die Route um sie herumführt. So wäre es mit jedenfalls fast mit der Porte d'Aval bei Étertat fast ergangen - eine Wandmalerei an einem Hotel machte mich erst drauf aufmerksam - es ist nun einmal so, dass man nur sieht, was man kennt. 


 

Auch ohne das richtig gute Licht sensationell...
Auch ohne das richtig gute Licht sensationell...
Glücklicherweise ist der Tourismus nicht überall so trist, wie ich ihn in Belgien gesehen habe
Glücklicherweise ist der Tourismus nicht überall so trist, wie ich ihn in Belgien gesehen habe
Auch sonst gibt es hier das eine oder andere schlichte Ferienhäuschen mit Blick auf das Meer
Auch sonst gibt es hier das eine oder andere schlichte Ferienhäuschen mit Blick auf das Meer
Überall wunderschöne und gepflegte Altstädt - und ein Karussell und ein Riesenrad gehören immer dazu
Überall wunderschöne und gepflegte Altstädt - und ein Karussell und ein Riesenrad gehören immer dazu
Baustile und Materialien ändern sich mit dem, was die Gegend so zu bieten hat bzw. hatte
Baustile und Materialien ändern sich mit dem, was die Gegend so zu bieten hat bzw. hatte
Und natürlich gibt es auch viele beeindruckende Kirchen und Kathedralen
Und natürlich gibt es auch viele beeindruckende Kirchen und Kathedralen


Der Mont Saint Michel ist allerdings sensationell! Die Anlage des Kloster auf der Felsinsel mitten im Wattenmeer ist mehr als beeindruckend – UNESCO Weltkulturerbe ist eben doch nicht gleich UNESCO Weltkulturerbe. Für diese Klosterinsel, deren Anfänge mehr als 1000 Jahre zurückliegen, unterschreibe ich die Bedeutung als Welterbe sofort! Ein Campingplatz weniger als zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt, erlaubte es mir, sogar noch einmal bei Dunkelheit zurückzukehren, um ein paar Nachtaufnahmen zu machen. Bei meiner Ankunft hatte ich noch einen besonderen Service genutzt: Auf dem Großparkplatz gibt es Abstellboxen für Fahrräder, für die nur 2 € Schlüsselpfand erforderlich sind. So etwas habe ich bisher nirgends vorgefunden – und man weiß ja nie, wo viele Touristen zusammenkommen, sind die Strolche meistens auch nicht weit. Apropos viele Touristen: Nicht vorstellen möchte ich mir, wie es hier in der Hauptsaison zugeht, wenn dann auch noch Japaner, Chinesen und Amerikaner wieder dazukommen. So war alles noch relativ entspannt. Und hiermit endet meine Fahrt durch und um die Normandie, morgen geht’s weiter in die Bretagne.  



Mont Saint Michel - mitten im Wattenmeer
Mont Saint Michel - mitten im Wattenmeer
Nicht nur aus der Ferne, sondern auch im Innern mit vielen Details ein Leckerbissen
Nicht nur aus der Ferne, sondern auch im Innern mit vielen Details ein Leckerbissen
Die Größe der Anlage und die Vielfalt der Räume und Gänge sind verwirrend
Die Größe der Anlage und die Vielfalt der Räume und Gänge sind verwirrend
Wahrscheinlich wurde hier das Wohnen auf verschiedenen Ebenen erfunden
Wahrscheinlich wurde hier das Wohnen auf verschiedenen Ebenen erfunden
Und rundherum ist einfach nur Watt
Und rundherum ist einfach nur Watt
Und in ein paar Stunden steht wieder alles bis an die Mauern der Klosterinsel unter Wasser
Und in ein paar Stunden steht wieder alles bis an die Mauern der Klosterinsel unter Wasser
Und dann zum Ende doch noch den Mont Saint Michel bei Nacht
Und dann zum Ende doch noch den Mont Saint Michel bei Nacht

Mit Hindernissen durch die Bretagne

Von Pleiten, Pech und Pannen


Jeder kennt diese Filme, in denen nichts Besonderes passiert. Die Handlung plätschert so vor sich hin, alles Normalität ohne Höhepunkte und ohne Katastrophen. Das sind in der Regel nicht die Filme, die einem im Gedächtnis hängen bleiben, und so verstehen es selbst die Macher von Daily Soaps, in jede Episode auch eben diese Momente einzubauen, die nicht alltäglich sind.

Bisher kam mir meine Reise ein bisschen so vor wie einer dieser Langweiler: Ich fahre in Westeuropa von Campingplatz zu Campingplatz, kaufe ich Supermärkten mit einem riesigen Warenangebot ein und gehe in vertrauten Fastfoodketten oder in Restaurants essen. Alles ganz normal. Wetter meistens angenehm, schöne Landschaften, schöne Ortschaften. Seit ich die Bretagne erreicht bzw. inzwischen umrundet habe, ist allerdings ein bisschen der Wurm drin und kleine Missgeschicke – die man, wenn man ehrlich mit sich ist, meistens selbst verursacht hat – und kleine Katastrophen sorgen für Frust und Spannung.



Ein Selfie des Verfassers in Momenten, in denen ein größeres Problem auftaucht
Ein Selfie des Verfassers in Momenten, in denen ein größeres Problem auftaucht


Aber der Reihe nach. Mit Le-Mont-St.-Michel habe ich die Normandie verlassen und bin in der Bretagne angekommen. Größer und die Küste noch zerklüfteter als in der Normandie mit teils tiefen Einschnitten, die entweder mit Fähren abgekürzt werden können oder weite Bögen erfordern. Der Küstenlinie folge ich nicht konsequent, denn dann würde mein Ziel buchstäblich in weite Ferne rücken. Auch die Euroveloroute 4, die bei Morlaix in die Euroveloroute 1 übergeht, führt von hier an quer durch das Binnenland nach Nantes.


 

Immer wieder geht es über Brücken und mit Fähren über tiefe Einschnitte in die Küste
Immer wieder geht es über Brücken und mit Fähren über tiefe Einschnitte in die Küste


Ich fahre durch Landschaften, in denen der Gemüseanbau dominiert, und noch nie habe ich so viele Felder mit Porree gesehen wie hier und frage mich ernsthaft, ob sich ganz Frankreich im Winter ausschließlich von Porree ernährt. Eine mögliche Erklärung drängt sich einem allerdings auf, wenn man an die Küste, insbesondere an der Nordseite der Halbinsel kommt, wo jetzt die Hochsaison der Muschelernte läuft und Miesmuscheln und Austern in unvorstellbaren Mengen aus dem Meer geholt, verarbeitet oder überall zum Verkauf angeboten werden. In den Restaurants wird kaum noch etwas anderes als Muschelgerichte serviert. Natürlich habe ich sie auch gegessen, bin aber zu dem Schluss gekommen (wusste ich eigentlich schon vorher), dass Muscheln nichts für den Radfahrer sind: Man bekommt einen riesigen Top vorgesetzt, pult sich mühsam das wenige Muschelfleisch aus den Schalen und ist hinterher hungriger als vorher. So geht’s nicht. Aber ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass der Porree nur für die Zubereitung der Muscheln angebaut wird.



Es wird nicht nur Porree angebaut, sondern auch viele andere Gemüsesorten - hier sind es Artischockenfelder
Es wird nicht nur Porree angebaut, sondern auch viele andere Gemüsesorten - hier sind es Artischockenfelder


Kleine Highlights bieten die Altstädte z. B. von St. Malo oder von St. Brieuc, in denen sich dann aber auch jetzt in der Nachsaison noch die Menschen drängeln.



St. Malo unterscheidet sich noch einmal deutlich von den vielen anderen Städten hier an der Küste
St. Malo unterscheidet sich noch einmal deutlich von den vielen anderen Städten hier an der Küste
Eine geschlossene Bebauung eingerahmt durch die alte Stadtmauer
Eine geschlossene Bebauung eingerahmt durch die alte Stadtmauer
Beeindruckende Buhnen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Offenbar erwartet man hier Größeres
Beeindruckende Buhnen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Offenbar erwartet man hier Größeres


Eigentlich bin ich immer auf (fast) alles vorbereitet. Als ich meine Sachen für die Tour packte, überlegte ich, ob ich für den Campingkocher – ein kleiner, leistungsstarker Allesbrenner, mit dem man sich auf dem Campingplatz leicht Freunde verschafft, weil der Krach macht, wie ein startendes Flugzeug – Adapter für andere Gaskartuschen und Flasche und Pumpe für Benzin oder Petroleum mitnehme. Ich bevorzuge Gas, ist eine saubere und schnelle Angelegenheit und ich bin in Europa… Also nur den Kocher und eine große Kartusche. Die geht jetzt langsam zur Neige und wenigstens für den Kaffee am Morgen ist dieses Teil unverzichtbar. Also mache ich mich auf die Suche. Allerdings sind die Schraubkartuschen hier in Frankreich absolut unüblich und in mehreren Supermärkten bekomme ich nichts Passendes.  Meine Hoffnung ruht auf Lannion, ein größerer Ort, in dem es auch einen Decathlon-Markt gibt. Ich navigiere mich durch den Ort zu dem Shop, und gleich hinter dem Eingangsbereich finde ich unzählige Gaskartuschen. Aber anscheinend keine, die zu meinem Primus-Kocher passt. Ein freundlicher Verkäufer bestätigt meinen Eindruck und empfiehlt mir, es in den großen Supermärkten zu versuchen. An mehreren war ich vorbeigekommen. Also zurück. Drei habe ich vergeblich abgeklappert, dann erstmal ein Frustessen bei dem der Entschluss reift, zurück zu Decathlon zu fahren, einen billigen Gaskocher und die passende Kartusche zu kaufen. Wieder in dem Laden, greife ich zu einem kleinen, leichten Modell für 20 Euro, schnappe mir denselben Verkäufer wie zuvor und frage, ob für diesen Kocher die gängigen Kartuschen passen. Nein – dafür müsse man andere nehmen, die auch zu Primus-Kochern passen und drückt mir die Gaskartusche in die Hand, nach der ich die ganze Zeit gesucht habe, hier nur nicht erkannte, weil diese eine bei uns unübliche und ohne Werkzeug auch nicht zu entfernenden Verschlusskappe haben – ich hätte den Mann würgen können. Ca. drei Stunden nervender Suche hatte ich ihm zu verdanken!

(Gerade musste ich das Schreiben unterbrechen, weil vor meinen Augen eine Maus im Vorzelt verschwand, und es wäre nicht das erste Mal, dass mir eine Packtasche von einem kleinen Nager angefressen wird. Ich habe sie nicht gefunden!)



Ach ja, Leuchttürme gibt es hier auch...
Ach ja, Leuchttürme gibt es hier auch...
Und hier sieht es so aus, als hätten Riesen mit Steinen gespielt
Und hier sieht es so aus, als hätten Riesen mit Steinen gespielt


Bei Morlaix verlasse ich die Küste und folge nun der Euroveloroute 1. Die nächsten 50km fahre ich auf einer ehemaligen Bahntrasse – gute Sandpiste, kein Fahrzeugverkehr, sanfte Anstiege und ebenso lange Gefällstrecken im Schutz von hohen Bäumen. Endlich mal vorankommen ohne steile Abschnitte und ohne den ständigen Gegenwind der letzten Tage. Genussradeln bis Carhaix-Plouguer, wo ich auf dem Campingplatz der Gemeinde übernachte.


 

Morlaix wird von einer beeindruckenden Eisenbahnbrücke überquert
Morlaix wird von einer beeindruckenden Eisenbahnbrücke überquert
Endlich einmal ohne schweißtreibende Steigungen auf einer alten Bahntrasse zügig vorankommen
Endlich einmal ohne schweißtreibende Steigungen auf einer alten Bahntrasse zügig vorankommen


Von hier aus folgt der Radweg über 270km dem Kanal Brest – Nantes und der Treidelweg am Kanalufer verspricht nichts Spannendes, aber gutes und leichtes Vorankommen, was ja zur Abwechslung auch mal sein darf. Kurz noch die Packtaschen im Supermarkt mit Proviant gefüllt, der Wegweiser für Radfahrer Richtung Nantes ist auch schnell ausgemacht und ohne mir große Gedanken zu machen, folge ich diesem Wegweiser. Läuft. Eine Schleuse reiht sich an die andere, allerdings wird der Kanal schon lange nicht mehr benutzt und die Schleusenwärterhäuser sind offenkundig gepflegte Feriendomizile.


 

Alles klar, hier bin ich richtig - dachte ich...
Alles klar, hier bin ich richtig - dachte ich...
Hunderte Schleusen machten die Schifffahrt auf dem Kanal möglich und unwirtschaftlich teuer
Hunderte Schleusen machten die Schifffahrt auf dem Kanal möglich und unwirtschaftlich teuer


Nach 35km zügiger Fahrt am Kanal erreiche ich Châteauneuf-du-Faou. Hier will ich meine erste Rast einlegen. Und hier gucke ich auch das erste Mal auf die Karte und stelle mit Entsetzen fest, dass ich auf dem Weg nach Brest bin und damit unterwegs in die falsche Richtung. Das tut weh! Ich stehe vor der Entscheidung, denselben Weg zurückzufahren oder direkt nach Süden zurück an die Küste. Ich entscheide mich für die zweite Variante und stoße bei Lorient wieder an den Atlantik und bekomme die dortigen U-Boot-Bunker aus dem 2. Weltkrieg zusehen, in denen heute Hightech-Segelyachten gebaut werden – hätte ich gern drauf verzichtet. 



Die U-Boot-Bunker von Lorient
Die U-Boot-Bunker von Lorient


Über Vannes am Golf du Morbihan erreiche ich St. Nazaire an der Loire-Mündung. Auf der Strecke am Kanal wäre ich in Nantes angekommen. Die Großstadt lasse ich jetzt aber aus, um mir einen weiteren Umweg zu ersparen. Bei trübem Wetter fahre ich morgens nach St. Nazaire ein, wo ebenfalls gigantische U-Bootbunker am Hafen stehen. Diese werden als Museum, für Ausstellungen und zz. als Impfzentrum genutzt. Sicher ist sicher. Man kann sogar auf den Bunker hinauffahren und bekommt einen Eindruck von den Dimensionen dieses Bauwerks mit seinen meterdicken Mauern. Auch der Blick über den Hafen und die Werften, in denen gleich zwei große Kreuzfahrtschiffe überholt werden, ist beeindruckend.


 

Unkaputtbar - auf dem Dach des U-Boot-Bunkers von St. Nazaire
Unkaputtbar - auf dem Dach des U-Boot-Bunkers von St. Nazaire
Und wieder geht es auf einer Hochbrücke über einen Fluss - diesmal die Loire
Und wieder geht es auf einer Hochbrücke über einen Fluss - diesmal die Loire


Die nächste Hochbrücke über eine Flussmündung will passiert werden. Allerdings hat die Pont-de-Saint-Nazaire einen sehr schmalen Radfahrstreifen, und dichter Verkehr rauscht direkt an mir vorbei. Die Sicht ist auch nicht berauschend und so bin ich froh, bei schwachem Wind problemlos auf der anderen Flussseite anzukommen. Jetzt nur weg von der Hauptstraße und direkt an der Jadeküste Richtung Süden. Die Landschaft ist jetzt wieder flach, nur noch niedrige Felsabschnitte mit kleine Sandstränden dazwischen. Und weite Ebenen mit Salinen, in denen Meersalz gewonnen wird.



Ebene - und Salzgewinnung in den Weiten der Salinen
Ebene - und Salzgewinnung in den Weiten der Salinen
Handarbeit ist angesagt
Handarbeit ist angesagt
An der Jade-Küste angekommen
An der Jade-Küste angekommen

Zwangspause durch Felgenbruch


Eines will ich mir nicht entgehen lassen, und das ist die Überfahrt zur Île  de Noirmoutier. Die ist wohl einzigartig auf der Welt, denn die gepflasterte Straße ist nur bei Ebbe befahrbar und steht bei Flut komplett unter Wasser.

Hier in den Wiesen und zwischen den Salinenbecken ist wenig Verkehr, und ich fahre auf glattem Asphalt. Unter diesen Bedingungen hört man jedes Geräusch am Fahrrad, und alles was sich nicht so anhört, wie es soll, nervt. Seit einiger Zeit habe immer wieder ein leises Ticken wahrgenommen, ohne es lokalisieren zu können. Mir scheint, dass das Geräusch lauter geworden ist. Irgendwann kommt mir der Gedanken, eine Speiche könnte lose sein und ich halte auf freier Strecke an, um am Ton der Speichen die Spannung zu testen und finde tatsächlich eine ziemlich lockere. Das eigentliche Problem erkenne ich aber mit Blick auf die Felge! An etlichen Speichenlöchern ist die Felge eingerissen und einige Speichen drohen auszureißen! Das ist ein Schaden, wie ich ihn noch nie gesehen habe und mit dem ich unmöglich die Fahrt fortsetzen kann. Wenn eine oder mehrere Speichen ausreißen, könnte das Hinterrad komplett blockieren, sodass ich nicht einmal mehr schieben kann. Rohloff-Nabe, Hope-Scheibenbremsen – da ist es nicht einfach mit einem neuen Hinterrad getan, hier muss eine neue Felge eingespeicht werden, was bei einer Rohloff-Schaltung auch wieder speziell ist.

Man hat hier in Frankreich den Eindruck, es wird ausschließlich Rennrad gefahren. Und so wird die Suche nach einer geeigneten Werkstatt nicht leicht, zumal ich schon recht weit von der nächsten Großstadt entfernt bin. Google zeigt für Challans drei Fahrradläden an: Intersport, Decathlon und ein richtiges Fahrradgeschäft. Also auf nach Challans. Der erste Laden, an dem ich vorbeikomme, ist Intersport. In der Fahrradabteilung hat man noch nie eine Rohloff-Nabe gesehen und ein Mechaniker rückt einem anderen Rad mit der Metallsäge zu Leibe, weil er die Tretkurbel nicht losbekommt – die fassen mein Rad nicht an! Auf zum nächsten Geschäft – eine Hochglanzfahrradladen. Ein Ersatzteil habe man nicht dafür, Lieferung würde eine Woche dauern und eigentlich habe man auch keine Zeit.

Ich übernachte erst einmal und mache mir Gedanken, wie es weitergehen soll. Telefonat mit dem Händler, bei dem ich das Rad gekauft habe – Empfehlung: Eine Werkstatt, die Erfahrung mit Rohloff hat. Mail an den Chef von Idworx – dem Hersteller, der diese Möglichkeit auf seiner Website anbietet. Und Suche auf der Rohloff-Seite nach einer Fachwerkstatt. Die findet sich in La-Roche-sur-Yon, ca. 50km weiter. Ich habe große Bedenken so weit mit der kaputten Felge zu fahren, riskiere es aber trotzdem und komme auch in dem Laden an. Inzwischen habe ich von Idworx bereits die Zusage, dass sie mir per Express (für sehr stolze Versandkosten) bis zum kommenden Dienstag (es ist Freitag) eine Felge und kostenlos eine Satz Speichen schicken, ich muss nur eine Versandadresse mitteilen. Wieder so ein Hochglanzladen und ein Fahrradverkäufer von dem Typ, bei dem ich sofort Pickel bekomme. Dieser erklärt mir dann auch, dass eine Reparatur unmöglich ist, das es viel zu kompliziert ist und man auch keine Zeit habe. Es geht nur darum, ein Rad einzuspeichen – bei einer Rohloff-Fachwerkstatt! Er schickt mich zu einem anderen Laden am anderen Ende der Stadt. Der dortige Mechaniker ist zwar deutlich bemühter, hat aber auch keine freien Kapazitäten, telefoniert aber mehrmals, um mich dann zu einem anderen Laden zu schicken: Der, aus dem ich gerade kam!!! Ich solle auf jeden Fall mit Frederic, dem Chefmechaniker, sprechen,  mit dem er telefoniert habe und der ihm versichert hatte, die Reparatur am Dienstag machen zu können. Ich bin nicht noch einmal zurückgefahren, sondern habe den Versand der Felge an die Adresse dieser Werkstatt veranlasst und hoffe… Und wenn die nicht bereit oder in der Lage sind, die Reparatur zu machen, dann werde ich die neue Felge eben selbst mit Bordmitteln einspeichen – inzwischen habe ich viel über das Einspeichen von Rohloff-Naben gelernt. Die Anleitung auf deren Homepage ist sehr, sehr gut!



Sieht nicht sch... aus, ist es auch
Sieht nicht sch... aus, ist es auch

Für vier Nächte habe ich mich jetzt erst einmal auf einem Campingplatz eingemietet. Zwangspause. Ich glaube, ich war noch nie so lange auf dem selben Platz. Bin ich jetzt schon Dauercamper? Die Zeit nutze ich, um hier ein bisschen über Pleiten, Pech und Pannen zu berichten, mich und meine Ausrüstung zu pflegen – und gestern mit dem Zug nach Nantes zu fahren, um mir die Stadt doch noch anzusehen. Schloss, Kathedrale, historische Bauten… kann man alles vergessen. Sensationell war für mich die Ausstellung „Les Machines de l’Île“ mit dem „Grand Éléphant“ und dem dreistöckigen „Carrousel des Mondes Maritim“ – tolle fantasievolle Figuren, inspiriert u. a. von Jules Verne, der in Nantes geboren wurde, und Leonardo da Vinci. Ein absolutes Muss. Ein paar Bilder folgen. Und es folgt auch ein Bericht, wie es mit dem Rad weitergeht und ob das Können und die Dienstleistungsorientierung französischer Fahrradwerkstätten doch besser sind als meine bisherigen Erfahrungen. Auf jeden Fall ist im Moment Ende mit Radlerroutine in Westeuropa – und das macht es dann ja auch wiederum interessant, auch wenn ich mir (und anderen, die ihn voll abbekommen haben – sorry dafür) den Stress gern erspart hätte.



Ein dreistöckiges Karussell
Ein dreistöckiges Karussell
Phantasievolle Unterwasserwesen vom Meeresgrund über die Tiefsee bis zur Oberfläche in den drei Etagen - auch für Erwachsene
Phantasievolle Unterwasserwesen vom Meeresgrund über die Tiefsee bis zur Oberfläche in den drei Etagen - auch für Erwachsene
Kein Seepferdchen
Kein Seepferdchen
Ich hätte da noch ein paar mehr Fotos von diesem Karussell
Ich hätte da noch ein paar mehr Fotos von diesem Karussell
Dieser 12m hohe und fast 40 Tonnen schwere Elefant läuft frei in Nantes herum
Dieser 12m hohe und fast 40 Tonnen schwere Elefant läuft frei in Nantes herum
Sensationell die Figuren aus Stahl und Holz die voller Mechanik und viel Fantasie stecken
Sensationell die Figuren aus Stahl und Holz die voller Mechanik und viel Fantasie stecken
Drei Menschen braucht man, um diesen Vogel zum Tanzen zu bringen
Drei Menschen braucht man, um diesen Vogel zum Tanzen zu bringen
Zum Glück nur Mechanik und nicht lebendig
Zum Glück nur Mechanik und nicht lebendig
Ach ja, ein Schloss hat Nantes auch,...
Ach ja, ein Schloss hat Nantes auch,...
...eine sehenswerte Einkaufspassage...
...eine sehenswerte Einkaufspassage...
...und ein sehr nachdenklich stimmendes Mahnmal gegen die Sklaverei
...und ein sehr nachdenklich stimmendes Mahnmal gegen die Sklaverei


Noch ein Gedanke zum Fahrrad zum Abschluss: Der Hersteller wirbt mit dem Slogan „Idworx – It works“ und hat den Anspruch, stressfreie Fahrräder herzustellen, was er sich auch teuer bezahlen lässt. Bis vor zwei Tagen hätte ich Motto und Anspruch auch ohne jeden Zweifel unterschrieben. 10.000km in 2 ½ Jahren, davon etwa 8.000km mit vollem Gepäck ohne das kleinste Problem. Beratung vor dem Kauf durch den Firmenchef persönlich in Bonn – top, Reaktion auf meinen Hilferuf – top. Allerdings scheint das Problem mit der Felge nicht ganz neu zu sein. Jedenfalls wand sich der Mitarbeiter, der sich um mich kümmerte im Telefonat ein bisschen: „Haben wir schon ein-, zweimal gesehen…, …die Felge ist gerade nicht lieferbar, Sie bekommen eine andere, stabilere von einem anderen Hersteller…, schicken Sie uns doch mal Fotos…“ Klar, ich habe viel Gepäck und die Belastung gerade auf dem Hinterrad ist groß – aber nicht größer als in den vergangenen 17 Jahren, in denen ich immer mit dieser Ausrüstung unterwegs war – auch auf Wegen, die nicht mit denen in Europa vergleichbar sind. Offenbar hat mich hier genau die Schwachstelle des Modells erwischt.



Das Ende der Tour de France


Die diesjährige Tour de France ging über 21 Etappen und 3414km, die mit einer Durchschnittgeschwindigkeit von über 41km/h gefahren wurden. Meine Tour de France über ging 27 Etappen und war ca. 2800km lang – von der Geschwindigkeit soll hier keine Rede sein. Sie begann bei Dünkirchen und endete nach gut vier Wochen (mit der Zwangspause wegen der gebrochenen Felge) bei Saint-Jean-de-Luz an der spanischen Grenze. Ich glaube, jede einzelne meiner Taschen ist schwerer, als die gesamte Hightech-Maschine eines Tour-de-France-Starters. Und bei mir steht im Etappenziel auch kein Service-Team, das sich um Ernährung, Unterkunft und Massage kümmert. Ich baue mein Zelt am Ende des Tages selbst auf und mein körperliches und leibliches Wohlergehen macht sich außer mir auch keiner Gedanken. Allerdings die Geschichte mit den Technikern, die dem Peloton folgen und bei einem Defekt am Rad in Sekundenschnelle einen Radwechsel sicherstellen, sollte ich mir noch einmal überlegen.



Nein, auf meinem Rad ist kein Platz für Mitfahrer(innen) und irgendwelche Trikots werde ich hier auch nicht erringen - bestenfalls für das schwerste Rad
Nein, auf meinem Rad ist kein Platz für Mitfahrer(innen) und irgendwelche Trikots werde ich hier auch nicht erringen - bestenfalls für das schwerste Rad


Die Reparatur des Hinterrades hat bei mir ein bisschen länger gedauert. Bestellung der Felge am Freitag. Dann geht’s erstmal ins Wochenende und außer, dass eine Versandmarke für UPS-Express gedruckt wird, passiert bis Montag nichts. Die (voraussichtliche) Lieferung ist bis Dienstag, 12.00 Uhr avisiert und die Mechaniker stehen mit Nippelspanner bereit, sofort loszulegen, wenn das Paket ankommt. Abwechselnd in einem Restaurant im gegenüberliegenden Supermarkt und auf einer Bank vor dem Fahrradgeschäft lese ich eine ganzen Roman durch (Titel: „Achtsam morden“ – in meiner Stimmung hätte ich einige Kapitel hinzufügen bzw. die eine oder andere Anregung aufnehmen können), immer in der Hoffnung, der braune UPS-Lieferwagen fährt doch noch vor. Aber nichts passiert. Ich nehme mein Rad, fahre zu einem anderen, näheren Campingplatz und verbringe die fünfte Nacht in diesem Kaff. Nachts ändert UPS die Lieferzeit auf Mittwochmittag und fügt einen neuen Versandstatus hinzu, den es am Vortag nicht gab: In Zustellung. Und tatsächlich, um 11.55 Uhr ist die Felge mit einem Satz Speichen endlich da. Ich frage den Chefmechaniker noch, ob er Erfahrung mit dem Einbau einer Rohloff-Nabe hat, was er bestätigt und gegen 17.00 Uhr (der zweite Roman ist auch fast durchgelesen) rollt er auf meinem Rad aus dem Laden. Sieht alles gut aus und ich bin froh, dass es endlich weitergehen kann. Die Rechnung: 25% Felge, 25% Einbau, 50% „Express“-Versandt UPS – für den Preis kaufen sich andere im Baumarkt ein ganzes Fahrrad und ich überlege, ob ich die Felge zu Hause vergolden lasse – mit Widmung für UPS!


 

Um die Mechaniker bei Laune zu halten, will ich im Supermarkt noch einen Wein besorgen - super Idee, wenn man selbst keine Alkohol trinkt!
Um die Mechaniker bei Laune zu halten, will ich im Supermarkt noch einen Wein besorgen - super Idee, wenn man selbst keine Alkohol trinkt!
So viele Räder und keine Ersatzfelge für meinen Lastenesel
So viele Räder und keine Ersatzfelge für meinen Lastenesel


Die Rechnung ist bezahlt, das Gepäck wieder auf dem Rad und ich will noch eine kurze Etappe zurück an die Küste fahren. Kaum habe ich den Laden verlassen, stelle ich fest, dass ich nur sieben von vierzehn Gängen schalten kann: Man muss bei der Nabe vor dem Ausbau auf den 1. oder 14. Gang schalten… Anfängerfehler. Soviel zur Erfahrung mit Rohloff. Ist aber kein ernsthaftes Thema und in weniger als fünf Minuten behoben. Dafür lohnt es sich nicht einmal, in den Laden zurückzufahren. Ein anderer Fehler hätte allerdings gravierendere Folgen haben können. Irgendwie fährt sich das Rad „schwammig“. Und nach vier Tagen und mehreren hundert Kilometern, gehe ich der Sache auf den Grund, bevor ich die Düne von Pilat besteigen will. Einigermaßen fassungslos stelle ich fest, dass in der Werkstatt vergessen wurde, das Hinterrad wieder festzuschrauben. Dazu ist zu sagen, dass ich eine spezielle Diebstahlssicherung an den Achsen habe und dem Mechaniker auch den Schlüssel übergeben hatte – zu viele spezielle Dinge, die man bedenken muss. Es hätte nicht mehr lange gedauert und die Sicherungsschraube wäre weg gewesen. Ich glaube, in die Werkstatt gehe ich nicht noch einmal…

So. Jetzt aber genug von kaputten Felgen und die Irrungen und Wirrungen der Reparatur. Von jetzt an geht es hoffentlich ohne Probleme weiter, die Halbzeit der Reise ist erreicht.


 

Endlich wieder unterwegs - und wieder geht es an einem Kanal entlang, diesmal aber in die richtige Richtung
Endlich wieder unterwegs - und wieder geht es an einem Kanal entlang, diesmal aber in die richtige Richtung
Wegelagerin auf dem Radweg - sie meint aber nicht mich
Wegelagerin auf dem Radweg - sie meint aber nicht mich


Ein bisschen von der verlorenen Zeit will ich wieder aufholen und fahre deswegen recht lange Etappen, was bei der ebenen Landschaft auch kein größeres Problem ist. Allerdings kommen die Orte an der Strecke dabei ein bisschen kurz.

Mit relativ großen Erwartungen bin ich nach La Rochelle gefahren. Wann ist ein Ort schön? Klar, Städte mit einer Geschichte und einer weitgehend erhaltenen Altstadt haben einen Reiz. La Rochelle ist als Touristenort daran zu erkennen, dass der gesamte alte Hafenbereich komplett mit Restaurants umgeben ist und sich die Menschen dort drängen. Die drei Türme als Wahrzeichen der Stadt sind schnell besucht – sind ja auch leicht zu finden. In der zweiten Reihe ist es dann aber auch schon nicht mehr ganz so attraktiv. Darum verlasse ich die Stadt und folge der Küste weiter. Da kommt aber erst der eigentliche Schock in diesem Ort: Die Yachthäfen mit wahrscheinlich tausenden von Booten aller Größen und dem ganzen Drumherum von Sportboothäfen – eine Atmosphäre, die mir nicht liegt.


 

Die Altstadt von La Rochelle hat einige sehr schöne Orte
Die Altstadt von La Rochelle hat einige sehr schöne Orte
Dazu gehörten natürlich auch die markantesten Bauwerke in der alten Stadtmauer
Dazu gehörten natürlich auch die markantesten Bauwerke in der alten Stadtmauer
Es sind natürlich drei Türme
Es sind natürlich drei Türme


Am kommenden Tag überquere ich die Gironde-Mündung mit einer Fähre – 72km Einzelzeitfahren liegen hinter mir, um die Fähre um 14.15 Uhr zu erreichen, denn auch hier ist die Hauptsaison zu Ende und die Abstände der Fahrten sind schon ziemlich groß. Diesmal schaffe ich es auch, entlang der Kanäle, denen die Route über lange Strecken folgt, in die richtige Richtung zu fahren. Und trotz der brettebenen Landschaft und den überwiegend guten Straßen habe ich keine Zeit für Pausen oder mir die Orte anzusehen – Einzelzeitfahren bei der Tour den France eben. Und das Ziel erreiche ich 15 Minuten vor dem Ablegen der Fähre, kann noch in Ruhe das Ticket kaufen und auch noch ein unterwegs gekauftes Sandwich essen. Bei der Fahrt über den sechs Kilometer breiten Mündungstrichter der Gironde ist weit draußen im Meer der spektakuläre Leuchtturm Cordouan zu sehen  - ziemlich einzigartig in Europa und auch UNESO-Kulturerbe. Hätte ich gern besucht, aber ein Blick auf die Internetseite zeigt, dass der nächste buchbare Termin am 04.10.21 wäre – also mehr als eine Woche nach meiner Passage: indiskutabel!



Die Tage werden inzwischen deutlich kürzer, und wenn ich ein bisschen Strecke schaffen will, muss ich morgens rechtzeitig meine Sachen packen
Die Tage werden inzwischen deutlich kürzer, und wenn ich ein bisschen Strecke schaffen will, muss ich morgens rechtzeitig meine Sachen packen


Von hier bis an die spanische Grenze ist die Küste fast durchgängig ein einziger langer Sandstrand mit hohen Dünen und den besten Wellen in Europa. Und so tummeln sich hier die Surfer – allerdings sind schon einige Spots ziemlich ausgestorben und so konzentriert sich das Treiben auf einige Orte, hauptsächlich weiter im Süden. Der Sand zieht sich vom Strand über die Dünen bis in die dahinterliegenden Pinienwälder, durch die sich ein gut ausgebautes Radwegenetz zieht. Die Orientierung hier ist ganz leicht: Immer geradeaus, dutzende Kilometer. Nur aufpassen, dass man nicht von dem Asphaltband abkommt. Dann steckt man sofort im tiefen, weichen Sand fest.


 

Weite Sandstrände und immer eine Brandung - die Bedingungen, die Surfer suchen
Weite Sandstrände und immer eine Brandung - die Bedingungen, die Surfer suchen
Man muss nur den richtigen Moment abpassen, um durch die Brandung zu kommen
Man muss nur den richtigen Moment abpassen, um durch die Brandung zu kommen


Um nicht nur durch Pinienwälder zu fahren, was auf Dauer auch nicht so spannend ist, mache ich eine Abstecher nach Bordeaux. Das erste Mal seit mehr als sechs Wochen gehe ich in ein Hotel und schlafe in einem Bett! Wie in solchen Fällen üblich, suche mich mir ein günstiges Hotel mitten im Zentrum, um mir dieses zu Fuß zu erschließen. Für 100 Euro einschließlich eines (zugegebenermaßen unerwartet reichhaltigen Frühstücks) komme ich einem sehr schlichten Zimmer unter. Ein komplettes Duschbad auf weniger als zwei Quadratmetern ist sportlich – die Duschkabine 60 x 60cm mit nach innen zu öffnenden Türen. Da ist es gut, dass ich inzwischen ein paar Kilo verloren haben, sonst würde ich wahrscheinlich noch immer darin feststecken. Allerdings ist der Hotelier sehr hilfsbereit und hat mein Fahrrad bei sich zu Hause untergestellt, denn soviel Platz war gibt es in dem Haus nicht, dass es dort auch noch mit unterkommen kann.


 

Stadtansichten aus Bordeaux
Stadtansichten aus Bordeaux


Bordeaux ist sensationell schön und super gepflegt. Vieles, was einen längeren Aufenthalt gerechtfertigt hätte, lasse ich aus. Nach Brügge die erste Stadt auf dieser Tour, die mich richtig begeistert hat und zum Wiederkommen einlädt. Und auch für französische Verhältnisse ist auch das Radwegenetz sehr gut ausgebaut – und eindeutig ausgeschildert: Die Euroveloroute 3 führt mitten durch die Stadt und die Wegweisung Richtung Süden weist Spanien aus und die Gegenrichtung konsequenterweise Norwegen… Zurück an der Küste lasse ich es mir nicht nehmen, die höchste Sanddüne Europas zu besteigen, die Düne von Pilat: ca. 110 m hoch und 2,7 km lang. Viele Paraglider nutzen die Aufwinde zur Küste, um über die Düne zu gleiten – ein tolles Bild. Es ist Wochenende und viele Menschen sind unterwegs. Dabei ist der Parkplatz fast leer und wieder einmal beschleicht mich die Frage, wie es hier wohl in der Hochsaison zugeht. Die gigantischen Campingplätze hier in der Gegend geben eine kleine Idee davon. Jetzt sind sie teils schon geschlossen oder strahlen eine gespenstische Atmosphäre aus. Und trotzdem schaffen es immer wieder einzelne mit ihrer Rücksichtslosigkeit, einem die Nachtruhe zu versauen. Auf einem dieser Plätze gab es eine ganz besondere Mischung: Auf einem Nachbarplatz wurde bis zwei Uhr in der Nacht Krawall gemacht, der Rest der Nacht, bis morgens um halb acht, gehörte den röhrenden Hirschen in den umliegenden Wäldern – komisch deren Brunftrufe haben mich nicht gestört, die Camper schon – Lärm ist eben auch subjektiv.



Die Bedingungen für Paraglider sind offenkundig ideal
Die Bedingungen für Paraglider sind offenkundig ideal
Bilder können nur schwer die Dimension dieses riesigen Sandhaufens widergeben
Bilder können nur schwer die Dimension dieses riesigen Sandhaufens widergeben


Wieder einmal ändern sich Landschaftsbild und Vegetation. Nach den endlosen Kiefernwäldern fahre ich mit einem Mal durch Korkeichwälder und frage mich dabei, ob Korkeichen als Chausseebäume der Unfallprävention dienen (glaube ich aber nicht, denn viele Bäume sind unten herum geschält und damit genauso hart wie andere Bäume). Die Sandstrände werden immer wieder durch Felsen unterbrochen und es geht wieder los mit dem Rauf und Runter. Im Dunst sind am Horizont die Pyrenäen zu erkennen – Spanien, oder zutreffender gesagt das spanische Baskenland kommt in Sicht und damit das Ende der flachen Etappen meiner Tour de France. Biarritz mit seinen Nobelhotels aus besseren Zeiten liegt noch am Weg und spätestens in Saint-Jean-de-Luz kurz vor der Grenze wird durch den Baustil deutlich, dass ich im Baskenland angekommen bin. Wäre auf der Brücke über den Bidasoa nicht ein kleines Zelt für Corona-Schnelltests und eine Polizeistreife, man hätte den Grenzübertritt nach Spanien nicht mitbekommen – keine Flaggen, keine Schilder nichts. Nur auf der anderen Seite reichlich Geschäfte, die all das anbieten, was in Spanien billiger ist als in Frankreich – die üblichen Grenzgeschäfte eben. Und doch ist jetzt vieles ganz anders. Aber dazu dann im nächsten Abschnitt. Hola, España!


 

Biarritz ist nicht meine Welt
Biarritz ist nicht meine Welt
Aber der Wucht des Ozeans könnte ich stundenlang zusehen - auch wenn noch nicht einmal Wind ist
Aber der Wucht des Ozeans könnte ich stundenlang zusehen - auch wenn noch nicht einmal Wind ist
Die Landschaft ändert sich. Mit immer mehr Felsenküste kündigen sich die Pyrenäen an
Die Landschaft ändert sich. Mit immer mehr Felsenküste kündigen sich die Pyrenäen an
Nicht nur die Leuchttürme sehen im Baskenland anders aus
Nicht nur die Leuchttürme sehen im Baskenland anders aus