Die letzte Station in Estland, und damit noch im Baltikum, war Narva, die Grenzstadt am gleichnamigen Fluss. Auf der anderen Flussseite liegt Ivangorod - schon der Name lässt keinen Zweifel: hier fängt Russland an. Wie geplant stehe ich sehr früh auf, um dem Hauptverkehr aus dem Weg zu gehen und bin um 06.00 Uhr auf dem Rad. Ein kurzes Stück durch die Stadt und schon stehe ich vor dem vergitterten Grenzübergang. Nicht die Kontrolle für Fahrzeuge, sondern durch das Abfertigungsgebäude für Fußgänger muss ich mich mit meinem schweren Gerät zwängen. Ausreise - nur eine Formalität. Über die (ebenfalls hoch vergitterte) Brücke, noch einmal durch ein Kontrollgebäude zwängen, und in weniger als 20 Minuten stehe ich auf russischem Boden und habe einen neuen Stempelabdruck in meinem Pass. Das ging viel geschmeidiger als gedacht und noch unproblematischer als in Kaliningrad. Nur Freundlichkeit ist ein absolutes Ausschlusskriterium bei der Auswahl der Grenzbeamten auf beiden Seiten...
An der Straße stehen die Wegweiser nach St. Petersburg und die Strecke ist kürzer als gedacht. Ca. 130 km sind kein Thema für einen Tag, an dem ich so früh im Sattel sitze. Da kann ich es mir auch erlauben, die etwas längere Strecke an der Küste zu fahren, auf der ich mit wesentlich weniger Verkehr rechne. Ein fataler Fehler, der sich bitter rächen soll. Es herrscht wirklich wenig Verkehr auf dieser Strecke, die aber gut ausgebaut ist und an der nur kleine Ortschaften liegen. Dann, nach etwa acht Kilometern eine Militärkontrolle. Solche Kontrollstellen habe ich schon massenhaft problemlos passiert und arglos und mit gutem Gewissen rolle ich auf die beiden jungen Solaten zu. Anhalten. Ausweis vorzeigen und dann kommt das Smartphone des Jüngeren der beiden zum Einsatz und mit Hilfe des Google Übersetzers - warum er alles ins Englische übersetzen lässt, bleibt dabei sein Geheimnis - macht er mir klar, dass ich mich in einem Gebiet befinde, für das man eine Sondererlaubnis benötigt, die ich natürlich nicht habe, und dass ich zurück zur Hauptstraße müsse. Bevor ich den Rückzug antreten kann, müsse ich aber noch bestraft werden. Immer schön freundlich und geduldig bleiben, mit Menschen, die eine Kalaschnikow umgehängt haben, diskutiert man nicht. Allerdings hatte ich gelesen, dass die Strafen in Russland auch für kleine Verstöße drastisch sind und ich ahne nichts Gutes. Er verschwindet mit meinem Pass in einem Gefährt, das bei uns auf keiner Baustelle als Pausenraum durchgehen würde. Nach einer ganzen Weile, in der der zweite Soldat mir ein Gespräch über Fußball aufnötigen will (genau mein Thema!), werde ich aufgefordert, in diesen maroden Anhänger zu steigen, weil immer wieder neue Fragen auftauchen. Drinnen wird das ganze Elend dieses Arbeitsplatzes erst richtig deutlich: links neben der niedrigen Eingangstür steht ein grob zusammengeschweißter Kanonenofen, davor eine Axt und ein paar zersplitterte Bretter als Brennstoffvorrat, daneben eine Kalaschnikow. Alles ist alt, dreckig und bei Wind und Regen muss es bei den zahlreichen Löchern richtig ungemütlich hier drin sein. Als Schreibtisch dient ein klapperiger Campingtisch, zu dem auch zwei ebenso wenig vertrauenserweckende Hocker gehören. Auf einen davon sitzt der junge Bursche und müht sich mit den Formularen, die es gilt, handschriftlich auszufüllen - immer mit einem Blick auf ein bereits ausgefülltes Exemplar, das offenkundig als Vorlage dient. Ich werde aufgefordert, auf dem Radkasten Platz zu nehmen und kann das ganze Schauspiel jetzt in aller Ruhe verfolgen, wobei mir irgendwann fast der Geduldsfaden gerissen wäre. Deutlich entspannter wurde ich nämlich, als ich nach der Höhe der zu erwartenden Strafe frage und erfahre, dass ich 750 Rubel - das sind etwas weniger als 10 Euro - bei einer Bank einzuzahlen habe. Also nur noch Eindrücke aufsaugen (ich habe mich nicht getraut, zu fragen, ob ich Fotos machen darf - wenn es um sicherheitsrelevante Einrichtungen geht, sind viele Staaten sehr empfindlich). Die Aufregung ist auch mehr auf der Seite meines Gegenübers als bei mir, was sich in einer stark zitternden Hand bemerkbar macht. Immer wieder neue Fragen, um das Formular vollständig auszufüllen. Zwischendurch Anrufe bei einer anderen Dienststelle, um sich Rat zu holen. Dann - wozu auch immer - der Versuch, sich der Unterstützung eines altersschwachen Netbooks zu bedienen, der in ca. zehn Neustarts mündet, was dem Mann deutlich peinlich ist, und er wendet das Gerät von mir ab, damit ich nicht auf das Display sehen kann - aber Windows ist mit seinem Startjingle unerbittlich. Da Blaupapier nicht zur Ausstattung dieser Dienststelle gehört, fängt nach dem mühsamen Ausfüllen des ersten Formulars die Abschrift der Kopie an - dauert fast genauso lange. Am Ende muss ich fünf Unterschriften leisten, bekomme einen abgerissenen Zettel, auf dem handschriftlich nur der einzuzahlende Betrag vermerkt ist und nach gut einer Stunde verabschiede ich mich in entgegengesetzter Richtung. Viel Aufwand, viel Zeit und die entspannte Fahrt nach St. Petersburg wird jetzt doch deutlich länger als erwartet. Vielen Dank dafür. Das erste Mal auf allen meinen Reisen, dass ich eine Strafe bezahlen muss. Und dass nachdem ich kaum eine Stunde im Land bin.
Weil meine Personalien telefonisch weitergegeben wurden und ich nicht weiß, was damit passiert, habe ich den Betrag gleich am Tag nach meine Ankunft bei einer Bank in St. Petersburg eingezahlt - ich möchte mir schließlich nicht noch den Tag der Ausreise verderben!
Kein besonders gelungener Einstand für meine zweite Annäherung an Russland auf dieser Tour. Jedenfalls liegt jetzt ein langer Tag vor mir, denn ich möchte auf keinen Fall noch irgendwo unterwegs übernachten, sondern St. Petersburg noch erreichen, um die nächsten drei Tage komplett für die Besichtigung nutzen zu können. Ich komme zwar gut voran, obwohl es zu allem Überfluss auch noch recht stark zu regnen anfängt, und ich mir die Straße mit immer dichterem Verkehr teilen muss, wobei ein ganz passabler Seitenstreifen vorhanden ist. Nach insgesamt gut 130km passiere ich dann tatsächlich gegen 18.30 Uhr das Ortsschild der Fünf-Millionen-Metropole, was ungewöhnlich ist, denn üblicherweise werden Entfernungsangaben immer bis zur Ortsmitte gemacht. Jetzt habe ich noch einmal 40km Großstadt vor mir! Vier- bis achtspurig und zu Nullkommanix auf Radfahrer eingestellt. Allerdings ist die Orientierung einfach: 35 km immer schnurgeradeaus auf derselben Straße bis ins Stadtzentrum! Diese Stadt ist einfach gigantisch groß, hat aber auch immerhin fast so viele Einwohner wie ganz Dänemark! Ein Hotel habe ich mir von unterwegs gebucht, wobei immer zwei Kriterien den Ausschlag geben: Lage und Preis. Schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus, man muss aber deutliche Abstriche beim Komfort machen. Lage bedeutet in erster Linie kurze Wege zu den Attraktionen der Stadt. Und das schlichte Hotel liegt tatsächlich so, dass ich die Newa mitten im Zentrum in 15 Minuten zu Fuß erreiche, zum Winterpalast ist es gerade eine halbe Stunde. Die Unterkunft ist schlicht, sauber und sehr günstig - günstiger als das Hostel in Tallinn! Nach 178km steige ich vom Rad, dass im Keller des Hotels verschwindet und die nächsten drei Tage Ruhe hat. Meine bisher längste Etappe auf dieser Tour. Und nur um es klarzustellen: Ich benötige keine Penatencreme mehr. Auch solche langen Tage sitze ich inzwischen problemlos aus.
Eigentlich wollte ich mich am Morgen mit einem Kollegen zum Frühstück treffen, der mit seiner Altherrentruppe zum Fußball gucken hier ist und dann mit dem Wohnmobil weiterzieht. Aber erstens bin ich von der vielen Fahrerei ziemlich müde, zweitens regnet es am Morgen wieder und drittens habe ich unter diesen Bedingungen keine Lust mit dem Rad noch einmal 30km durch die Stadt zu radeln - Frühstück wird nach SH verschoben.
Apropos Fußball. Es ist WM in Russland und damit wird natürlich auch in der zweitgrößten Stadt des Landes gespielt und es gibt natürlich ein FIFA Fan-Fest und der ganze Rummel der heute zum Fußball so dazu gehört. Und als kämen hier nicht auch so schon genug Touristen aus aller Welt her - die Asiaten sind gefühlt deutlich in der Mehrheit - kommen noch tausenden Fußballfans dazu. Viele Südamerikaner, aber auch Australier, Iraner und, und, und. Mexikaner sind immer besonders fröhlich, wenn sie mitbekommen, dass man Deutscher ist...
Man kann in dieser Stadt nicht alles sehen. Dafür würden meine zehn Wochen Urlaub wohl nicht ausreichen. Also heißt es, sich zu beschränken. Auf jeden Fall möchte ich in den Winterpalast und die Eremitage, die wohl größte Attraktion der Stadt, sehen. Der Regen ist eine ganz gute Motivation, hiermit zu beginnen. Glücklicherweise hat er aufgehört, als ich dort ankomme, denn zwei Schlangen, jede bestimmt 100m lang stehen auf dem Innenhof vor den Kassen. Bevor ich drinnen angekommen bin, vergehen etwa 1,5 Stunden. Man steht draußen schon und staunt, in den Palästen bekommt man den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Es sind die Räume selbst und die Exponate. Insgesamt soll das Museum über drei Millionen Exponate verfügen - die meisten natürlich in den Magazinen - und wollte man alle sehen, würde man angeblich 20 Jahre benötigen. Nun gut, soviel Zeit habe ich nicht und auch nicht, alle 1170 Räume anzusehen. Es bleibt bei einer geführten Tour zu den Highlights und selbst die ist schon verwirrend genug bei all den da Vincis, van Goghs, Picassos und wie sie sonst noch so alle heißen - alle großen Meister sind hier vertreten. Danach mache ich mich noch mal auf eigene Faust auf, um ein paar Eindrücke einzufangen. Glücklicherweise geht es auf den Abend zu und der Andrang ist nicht mehr ganz so groß.
Deutlich handfester geht es direkt gegenüber in der Festung von St. Petersburg zu. Sie wurde auf einer Insel in der Newa gebaut und diente der Verteidigung der von Zar Peter dem Großen gegründeten Stadt. Hier stehen auch die Kirchen Peter und Paul, die von weitem zu sehen sind. An dieser Festung musste ich immer vorbei, wenn ich in die auf die andere Seite der Newa wollte, wo die meisten Attraktionen sind.
Drei Tage. Wie am besten nutzen? Nicht nur in der Stadt, sondern auch außerhalb gibt es viel zu sehen. Das Bernsteinzimmer erspare ich mir, weil es mir zu aufwändig ist, hinzukommen und wahrscheinlich wird man jetzt in der Hochsaison nur durchgeschoben. Aber vor dem Winterpalast legen Tragflächenboote nach zum Peterhof ab, einer weiterer Zarenpalast mit ausgedehnten Parkanlagen. Die Wettervorhersage ist für meinen zweiten Tag gut und so stehe ich um 10.00 Uhr an einem der Anleger und fahre für 850 Rubel ca. 45 Minuten über die Newa und die Ostsee zum Peterhof. Ich dachte ich bin recht früh. Falsch. Es sind schon tausende da und an der ersten Kasse, die nur den Eintritt für den unteren Park kassiert - 800 Rubel - bilden sich lange Schlangen.
Am Palast Peterhof stehen tausende Menschen an den Wasserspielen und warten, dass diese um 11.00 Uhr eingeschaltet werden. Sie bleiben dann aber den ganzen Tag an. Also erst einmal Richtung Palast und hier eine Besichtigungstour mitmachen. Vielleicht ist es da ja noch nicht so voll. Und diesmal habe ich unglaubliches Glück. Ich spreche einen deutschen Reiseleiter an, der mit seinem Schildchen vor dem Hauptportal steht und frage ihn, wo die Kassen sind. Kurzentschlossen schleust er mich an den zahlreichen Wachleuten vorbei durch den Ausgang für organisierte Gruppen und ohne Warterei stehe ich vor einer Kasse ohne Menschengedränge und innerhalb von weniger als 10 Minuten bin ich im Palast. Und wieder ist es das Gold, das einem den Atem verschlägt.
Selbst als ich mich um 15.30Uhr auf den Rückweg mache, ist der Andrang ungebrochen. Auch hier müssen täglich zehntausende durchgeschleust werden. Dementsprechend ist auch der Rundgang im Palast - Stehenbleiben in einigen Räumen verboten, Sperrung von Räumen, wenn eine gewisse Zahl von Besuchern überschritten wird - man wird mehr oder weniger durchgeschoben und hat dann viel Zeit für den riesigen Souveniershop. Es gibt noch einige Museen im Palast, die natürlich nicht im Eintrittpreis von 1000 Rubel enthalten sind und jeweils mit Schlangestehen verbunden sind - ich habe drauf verzichtet.
Schon bei meiner Ankunft sind viele Bühnen und riesige Leinwände aufgebaut, bzw. sind noch im Bau, was ich alles mit der Fußball-WM in Verbindung gebracht habe. Allerdings habe ich hier keine Übertragungen gesehen. Eine der Brücken über die Newa ist statt mehrerer Stunden in der Nacht schon seit dem Vortag komplett gesperrt und geöffnet und offenbar wird hier ein Feuerwerk vorbereitet.
Was ich nicht wusste ist, das in diesem Jahr in der Nacht des 23.06. das größte Volksfest dieser Art in Russland stattfindet. Der schwedische Dreimastsegler, der auf einem Foto oben auf der Newa zu sehen ist, gleitet dann unter roten Segeln über den Fluss, begleitet von Musik und einem riesigen Feuerwerk. Gefeiert wird immer um die Mittsommernacht herum der Schulabschluss, der in Russland als ganz besonderes Ereignis zelebriert wird, aber nirgends im Land gibt es ein Fest, das mit diesem vergleichbar sein soll. Als ich am Abend noch einmal in die Stadt gehe, sind schon alle Brücken und Ufer mit Hunderttausenden gesäumt. Einen Platz mit guter Sicht auf den Fluss zu ergattern schon jetzt unmöglich. Ich will sowieso erst einmal etwas Essen. Das Wetter ist fantastisch für ein solches Fest. Warm, windstill, herrliches Abendlicht. Und es herrscht eine unglaublich sympathische Atmosphäre. Alle sind total entspannt, Alkohol spielt so gut wie keine Rolle. Nach der Zahl der Verkaufsstände scheint Kaffee das Getränk der Wahl an diesem Abend zu sein. Allerdings ist auch unglaublich viel Polizei auf den Straßen, bis hin zu den paramilitärischen OMON-Spezialeinheiten.
Worauf die Menschen warten, erschließt sich mir zwar noch immer nicht (über die Hinergründe habe ich mich erst hinterher schlau gemacht), gehe aber richtig davon aus, dass alle das Feuerwerk erwarten. Ich habe Hunger und gehe erstmal zünftig beim Inder Tadoori Chicken essen und sehe dabei die 2. Halbzeit des Spiels Deutschland gegen Schweden - man muss auf so einer Reise ja mitreden können, zumal ich in den nächsten Wochen auch noch ziemlich lange in Schweden unterwegs sein werde. Als ich dort nach 23.00 Uhr wieder rauskomme, ist es dunkler geworden - ganz dunkel wird es nicht - und auf den Straßen ist kaum noch ein Durchkommen. Auf dem Schlossplatz gibt es ein großes Livekonzert, das auf Großleinwände an verschiedenen Stellen in der Stadt übertragen wird. Es müssen Hunderttausende sein, die jetzt in der Stadt sind. Und doch es ist weiter sehr angenehm sich hier zu bewegen, obwohl solche Massenveranstaltungen sonst nicht meine Sache sind. Allerdings ist auch alles in der Stadt festlich angestrahlt und ergibt noch einmal ein ganz neues Bild. Nur die Chancen, jetzt noch einen Platz mit halbwegs guter Sicht zu finden, sind auf Null gesunken.
Die ganzen Bühnen und Videowände auf dem Schlossplatz und der Spitze der Newa-Mündung, die Schuten im Fluss, die ich für Arbeitsschiffe hielt, tatsächlich aber als Abschussrampen für das Feuerwerk dienten und die Straßensperrungen hatten nichts mit der Fußball-WM zu tun, sondern waren nur für diese alljährliche Spektakel aufgebaut worden und am Sonntag danach schon fast wieder komplett verschwunden. Auch hatte die Straßenreinigung schon als ich in der Frühe wieder auf dem Weg auf die andere Flussseite war, ganze Arbeit geleistet. Wie immer war alles wie gewienert und alle Straßen wurden noch einmal mit Wasser abgespült, um die letzten Reste zu beseitigen. Dieses Aufwandes hätte es nicht bedurft, denn schon am Morgen zogen dichte Wolken auf und im Laufe des Tages fing es dann kräftig an zu regnen. Ich hatte mir noch ein paar Punkte ausgesucht, die ich besichtigen wollte. Das Programm - und auch die Bilder litten kräftig unter dem Wetter. Auf dem Weg zur nächsten Brücke also erst einmal in das wohl kleinste Museum mit den wenigsten Ausstellungsstücken der Stadt: Das erste Haus der Stadt, in dem Zar Peter der Große wohnte und arbeitete bis die Paläste fertig waren - war nur eine sehr kurze Zeit, so ein Zar muss ja auch mal los und Kriege führen, zeigt aber, dass er wirklich eher für das Schlichte und Praktische zu haben war.
Vor dem Regen bin ich dann noch in ein paar Kirchen geflüchtet. Auch hier keine Details, sondern nur ein paar Eindrücke von den Innenräumen. Auch sie, wie alles hier, riesig und überwältigend in ihrer Pracht.
Drei Tage zu Fuß die Stadt erkundet, sollen vorerst reichen. Ich habe ja noch ein bisschen Programm vor mir. Am Montag bin ich gegen 08.30 Uhr aufgebrochen, um mich durch den Großstadtverkehr aus dem Staub zu machen. Nach ein paar Kilometern verpasse ich die richtige Einmündung, bemerke meinen Fehler aber schnell und kehre um. An einer Ampel werde ich von einem Russen auf gutem Englisch angesprochen, weil es ungewöhnlich ist, dass hier ein Fremder mit dem Fahrrad unterwegs ist. Selbst auch Radfahrer, beschreibt er mir lange und ausführlich, wie ich die nächsten 20 - 30 km durch die Stadt und die Vororte komme. Wo es Radwege auf welcher Seite der Schnellstraßen gibt, wo ich wie queren muss und wo ich auch mal für ein kurzes Stück auf die Fahrbahn muss. Gut gemeint, aber auch unheimlich verwirrend, wenn man noch nicht einmal die Straßennamen lesen kann. Aber auf wundersame Weise klappt es. Völlig problemlos komme ich gefahrlos durch den Berufsverkehr und fahre bald direkt an der Ostsee in Richtung Wyborg, meiner letzten Zwischenstation vor der Ausreise nach Finnland. Wieder eine Tagesetappe jenseits der 170-km-Marke, aber Wind und Sonne helfen. Wyborg klingt schon ziemliche skandinavisch und war auch lange schwedisch. Und mit skandinavischen Städten verbindet man gedanklich bestimmte Bilder. Die treffen auf diese 70.000-Einwohner-Stadt aber so garnicht zu. Es ist eine durch und durch russische - oder vielleicht sogar eher sowjetische - Stadt. Und eine Burg und ein schwedisches Rathaus machen nun eimmal noch keine schöne Stadt aus.
Die letzte kurze Etappe in Russland ist schnell gefahren. Zwei Passkontrollen direkt am Ortsausgang von Wyborg und wieder befinde ich mich im Grenzbereich. Jetzt bloß nicht vom direkten Weg zum Grenzübergang abweichen. Es geht immer am Kanal zwischen Laappeenranta und Wyborg entlang und es sieht mit den vielen Seen, Wäldern und Felsen schon ziemlich finnisch aus. Ab jetzt ist auch Schluss mir ebener Strecke. Es ist ein ständiges Auf und Ab. Dann die Grenzkontrolle, wieder ohne große Probleme und ich bin in Skandinavien angekommen. Schon die Passkontrolle auf finnischer Seite verläuft in einer ganz anderen Atmosphäre. Ein locker Smalltalk mit dem jungen Grenzbeamten in gepflegtem Englisch und das Gefühl macht sich breit, in einem freien Land zu sein. Und skandinavische Standard macht sich sofort an den Straßen und vor allem an den Radwegen bemerkbar - einfach ein Traum. Sehr gute, breite Radwege, fast alle Straßen werden in Unterführungen gequert und eine detaillierte Wegweisung für den Radfahrverkehr. Ich bin wieder in einer anderen Welt angekommen!
Die oft zitierte russische Seele hat sich mir in den wenigen Tage, die ich am Rand des Riesenreichs unterwegs war, nicht erschlossen. Und ich habe zwei verschiedene Welten gesehen, in der Oblast Kaliningrad und dem ländlichen Bereich um St. Petersburg und die Metropole St. Petersburg mit ihrer ganzen Pracht und dem offen zur Schau gestellten Luxus der reichen Russen auf der anderen Seite. Warm bin ich mit diesem Land nicht geworden und freue mich nur auf die endlosen Strecken durch Skandinavien - auch wenn die Preise hier einen kräftigen Sprung nach oben gemacht haben.