Auf der Zielgeraden

 

Die Tagesetappen werden jetzt immer länger. Wetter und Strecke sind gut und die Möglichkeit, die Runde doch noch zu schaffen rückt in greifbare Nähe. So viel Abwechselung gibt es auch nicht - oder ich fahre wieder einmal nichts ahnend dran vorbei. Abseits des Odertals dominiert die Landwirtschaft auf riesigen Flächen und in Städten wie Schwedt oder Anklam passiere ich große chemische Industrieanlagen, wo aus Zuckerrüben und Getreide Bioäthanol hergestellt wird. Das ist ein ethische Frage, was wir mit aufwändig hergestellten Lebensmitteln machen...

In Ueckermünde erreiche ich das Ende des Oder-Neiße-Radweges und damit die Ostsee. Der nächste Fernradweg ist der Ostseeküsten-Radweg, der allerdings über Usedom führt, wofür mir die Zeit fehlt. Deswegen fahre ich nach einer Übernachtung an dem kleinen Hafen von Mönkebude am Stettiner Haff auf möglichst direktem Weg über Anklam nach Greifswald. Noch einmal hautnah in der Natur bin ich im Peenetal. Für mich noch vielfältiger und ursprünglicher als das Odertal. Nicht umsonst (wenn auch maßlos übertrieben) wird diese Landschaft auch Amazonas des Nordes genannt. Eigentlich müsste ich hier noch einmal mit dem Kajak und vor allem mit Zeit herkommen. Zeit, die offenbar ein anderer Radreiser im Überfluss hat, den ich hier an einem Beobachtungsturm treffe. Und nicht nur Zeit, sondern auch Gepäck. So etwas habe ich bisher noch nicht gesehen!

 

135kg wiegt das Gespann - ohne Fahrer - dafür mit Kräutern und Salat in Blumentöpfen. Bergfahrten ausgeschlossen.
135kg wiegt das Gespann - ohne Fahrer - dafür mit Kräutern und Salat in Blumentöpfen. Bergfahrten ausgeschlossen.

 

Greifswald hatte es mir bei meiner Tour und die Ostsee vor zwei Jahren schon angetan und nach einer nassen Fahrt aus Anklam heraus, erreiche ich die alte Hansestadt bei bestem Wetter. Was jetzt kommt habe von eben dieser Tour noch in schmerzlicher Erinnerung. Der Ostseeküsten-Radweg wird zwischen Greifswald auf der denkmalgeschützten Trasse der alten B96 geführt - 30km Kopfsteinpflaster. Aber, wie ich in Stralsund feststelle, ist es etwas anderes, ob man so eine Strecke am vierten Tag oder nach fast sechs Wochen einer Radreise fährt. Wundgescheuertes Sitzfleisch bleibt mir diesmal erspart und so kann ich noch am selben Tag bis nach Zingst weiterfahren, wo ich nach 164km um 21.00 Uhr ankomme. Hier ist das allerdings kein Problem. Auf den Campingplätzen hier an der Ostseeküste in MV haben die Rezeptionen bis 22.00 Uhr geöffnet, was ich sonst nirgends so erlebt habe. Nur der Platzmeister, der mich auf dem Fahrrad zur Fläche für die Zelte begleitet, will nicht glauben, dass ich heute in der Nähe von Ueckermünde gestartet bin.

 

30km Kopfsteinplaster - ein Alptraum für Radler mit einem Hardtail
30km Kopfsteinplaster - ein Alptraum für Radler mit einem Hardtail

 

Normalerweise rächen sich solche langen Strecken am nächsten Tag. Aber anscheinend haben sich die Beine dran gewöhnt oder jeden Widerstand aufgegeben. Jedenfalls sitze ich am nächsten Morgen um 08.00 Uhr wieder im Sattel und folge der Küste Mecklenburgs weiter Richtung Westen. Es folgen die ganzen schicken Seebäder mit den herrlichen Stränden und Steilküsten, die irgendwie wie aus der Retorte aussehen. Und es ist jetzt voll in der Hauptsaison, was wenig Anreiz zum Bleiben bietet. Seinen vorläufigen Höhepunkt findet das Gedränge in Warnemünde, wo ich noch einmal reichlich Kalorien für den Nachmittag (Burger und riesiges Softeis) auffülle - und dann aber schnell weg...

 

 Warnemünde geht natürlich nicht, ohne ein Bild vom Leuchtturm
Warnemünde geht natürlich nicht, ohne ein Bild vom Leuchtturm

Es ist Freitag und mir bleiben noch zwei Tage. Jetzt ist es klar, dass ich die Strecke bis nach Hause schaffe. Es geht nur noch darum, wie lang die einzelnen Tagesetappen für den Rest werden. Und ich möchte nicht erst Sonntagabend ankommen, denn Montag beginnt der Alltag. Deswegen geht's weiter. In Zierow bei Wismar erreiche ich wieder spät abends einen dieser gepflegten Campingplätze. Trotz der Anstrengungen bin ich morgens wieder früh wach und bei bestem Wetter mache ich mich auf den Weg.

 

 

Was soll man im Hafen von Wismar anderes essen als ein Fischbrötchen
Was soll man im Hafen von Wismar anderes essen als ein Fischbrötchen

Der längste Tag

Traumhafte Bedingungen - Windstille, angenehme Temperaturen
Traumhafte Bedingungen - Windstille, angenehme Temperaturen

 

Die Bedingungen sind ideal und die Beine machen auch ganz gut mit. Die letzte Übernachtung könnte ich irgendwo in der Probstei einplanen und dann eine kleine Strecke für den Sonntag übrig lassen oder...

Es läuft. Ich folge dem Radwanderweg um den Klützer Winkel, lange Strecken auf dern Steilküste und selbst die kurzen Steigungen fahren sich wie von allein und schon um 11.30 Uhr setze ich in Travemünde mit der Fähre über den Priwall. Von jetzt an fahren ich durch die Touristenhölle der Lübecker Bucht an einem schönen Wochenende in der Hauptferienzeit. Das ist kein Spaß. Schnell weg. Erst ab Grömitz wird es etwas ruhiger. Ein bisschen Schummeln ist erlaubt und so schneide ich Großenbrode und Heiligenhafen und kürze über Oldenburg ab. Howacht war so eine Option für die Übernachtung. Hier bis ich aber schon gegen 18.00 Uhr. Und die Campingplätze habe Schilder an den Zufahrten, dass sie ausgebucht sind. 150km hinter mir, ca. 100km vor mir. Und immer noch fühlen sich die Beine ganz gut an. Also keine Übernachtung mehr, jetzt wird durchgezogen. Letztes Fastfood um 22.00 Uhr in Kiel und dann in die Dunkelheit hinein die letzten, gut vertrauten 50km nach Hause. Irgendwie muss der Körper bis in die Haarwurzeln voll mit Adrenalin und Endorphinen sein. Selbst ein paar eklige Anstiege laufen wie von allein nach mehr als 200km.

An der Hafenspitze von Eckernförde ist die Runde um Deutschland um 23.00 Uhr geschlossen
An der Hafenspitze von Eckernförde ist die Runde um Deutschland um 23.00 Uhr geschlossen

 

Um 00.30 Uhr rolle ich nach 248km in 13:33 Stunden im Sattel in meinen Carport - die längste Tagestour, die ich je gefahren bin. Noch fühle ich mich gut. Allerdings ist der Sonntag irgendwie gelaufen. Jetzt holt sich der Körper zurück, was ich ich ihm auf der Strecke Wismar - Schleswig abverlangt habe. Aber: Ziel erreicht - auf eigenem Reifen. 4900km liegen hinter mir und streckenweise schmerzhafte 300 Stunden im Sattel. Allein in der letzten Woche bin ich 1119 km von Königstein an der Elbe gefahren. Es war doch weiter als gedacht. Und die Zeit zu kurz, um mehr von Deutschland zu sehen.

 

Kaum ist man richtig in Form, ist die Tour auch schon vorbei
Kaum ist man richtig in Form, ist die Tour auch schon vorbei

 

Und zum Schluss muss natürlich die übliche Frage nach Pannen und Schäden beantwortet werden. Das Rad habe ich mir im vergangenen Jahr neu gekauft ein Allroller von Idworx. Der Slogan des Herstellers: Idworx - it works! Und das hat des denn auch tatsächlich getan. Dem Anspruch des stressfreien Fahrens ist das Rad vollkommen gerecht geworden. Gut, nach 4500km ein Plattfuß ist ok, denn dann wird auch der beste Reifen langsam dünn. Ansonsten nichts Erwähnenswertes. Im Gegenteil, sonst übliche Beschwerden mit verspannter Nackenmuskulatur oder eingeschlafenen Händen sind weitestgehend ausgeblieben. Und an das lange Sitzen werde ich mich wohl nie gewöhnen...

Das macht Lust auf die nächste Tour. Und dann hoffentlich in Japan und ohne Corona.