Ontario und die vielen Superlative


Gestern Abend war Vollmond. An die letzte Vollmondnacht auf meiner Reise kann ich mich noch sehr gut erinnern, denn es war die Nacht, in der ich vom Nordlicht überrascht wurde, das mich auch wegen der Gesamtstimmung so fasziniert hat. Und das war kurz nachdem ich von Saskatchewan kommend Manitoba erreicht hatte, also noch ziemlich weit im Norden. Ziemlich weit im Norden heißt, ich befand mich etwa auf der Höhe von Hamburg.



Inzwischen bin ich ein ganzes Stück weiter gekommen und den Vollmond habe ich in der Nähe der Niagarafälle erlebt. War nicht so spektakulär wie vor vier Wochen, aber hier habe ich den südlichsten Punkt meiner Tour erreicht und befinde mich etwa auf der Höhe von Florenz oder Marseille in Süden Europas. Das bedeutet auch, dass ich bei Temperaturen von bis zu 36 Grad im Schatten und schwüler Luft viel Schweiß gelassen habe und die letzten Tage durch Weinanbaugebiete und Obstplantagen gefahren bin und mich an den Verkaufsständen an der Straße mit frischen Pfirsichen, Nektarinen und Aprikosen versorgen konnte. Aber Ontario ist so riesig und sehr unterschiedlich! Dreimal so groß wie Deutschland heißt auch, dass die Wege hier sehr lang sind. Nachdem ich Winnipeg verlassen hatte und in Ontario angekommen war, bin ich gut 2000km gefahren und noch lange nicht durch. Im Westen habe ich mit Menschen gesprochen, die noch nie im Osten der Provinz waren und umgekehrt genauso – und man will auch nicht so viel miteinander zu tun haben, zu unterschiedlich ist die riesige Wildnis im „Nordwesten“ und das Wirtschaftszentrum am Ontariosee mit seiner 6-Millionen-Einwohner-Metropolregion um Toronto.



Obwohl ich lieber nach Karte fahren, lasse ich mich in Großstädten besser vom Navi abseits der Hauptstraßen auf für Radfahrer geeigneten Routen lotsen. So habe ich auch schnell und zuverlässig einen sicheren Weg aus Winnipeg heraus gefunden und die Provinzgrenze zwischen Manitoba und Ontario erreicht und mich für den Historic Highway 1 entschieden – nicht weil es sich um einen alten Teil des Trans-Canada-Highway handelt, sondern weil ich hier wieder einmal abseits der Hauptstraßen unterwegs bin. Nach so vielen Kilometern brettebener Prärie bin ich geradezu begeistert, als die ersten Felsen und Wälder auftauchen, die Straße Kurven hat und die Abwechslung nicht nur aus Raps- und Weizenfeldern besteht. Es sieht so aus wie in Skandinavien mit den von Gletschern glattgeschliffenen Felsen, Seen und Wasserfällen.



Auf Nebenstrecken ohne Autos verlasse ich Winnipeg
Auf Nebenstrecken ohne Autos verlasse ich Winnipeg
Früher eine wichtige Ost-West-Verbindung, heute eine entspannte Nebenstrecke
Früher eine wichtige Ost-West-Verbindung, heute eine entspannte Nebenstrecke
Ein bisschen wie Schweden
Ein bisschen wie Schweden


Und die Gegend wird deutlich touristischer, denn an den vielen kleinen Seen reihen sich die Touristenressorts und Lodges aneinander, sodass es für mich wieder einmal schwierig wird, irgendwo einen Zugang zu den Stränden zu finden. Seen gibt es hier allerdings im Überfluss. Kanada soll mehr Seen haben als alle anderen Länder der Welt zusammen. Allein Ontario soll über 250.000 Seen haben. Und genau da liegt hier in der Gegend das Problem, das ein Blick auf die Karte verdeutlicht – es gibt kaum ein Durchkommen, überall Wasser. Und so verengt sich das Straßennetz immer weiter und schließlich gibt es nur noch eine einzige Straße zwischen Ost und West.


Ein echtes Problem für Straßenbauer: Überall Wasser
Ein echtes Problem für Straßenbauer: Überall Wasser


Das erste dieser Nadelöhre erreiche ich in Kenora am Lake of the Woods. Auch dieser riesige See, den sich die USA und Kanada teilen, hat es im wahrsten Sinne des Wortes in sich: 155.000 Inseln liegen im See, die allermeisten auf kanadischer Seite. Von Kenora auch kann man ein paar davon sehen – und die traumhaften Häuser auf den kleinen Inseln. Man hat hier eben sein eigenes Boot oder lässt sich mit dem Wasserflugzeug zu seiner Insel oder zu den vielen anderen Seen bringen, wo es viele Camps und Lodges geben soll, die man nur aus der Luft oder auf dem Wasserweg erreichen kann. So zahlreich wie in den Prärieorten die Landmaschinenhändler sind hier die Bootshändler. In Kenora kann man sich quasi aussuchen wie viel Komfort und wie luxuriös man es haben möchte.


 

Ein erster Blick auf Kenora am Lake of the Woods
Ein erster Blick auf Kenora am Lake of the Woods
Begrüßt werde ich am Ortseingang von Kenora von dieser Schnappschildkröte, die auch richtig böse werden kann
Begrüßt werde ich am Ortseingang von Kenora von dieser Schnappschildkröte, die auch richtig böse werden kann
Es gibt hier sogar ältere, gepflegte Häuser
Es gibt hier sogar ältere, gepflegte Häuser


Danach wird es aber sehr einsam. Am Ortsausgang wird man noch einmal darauf hingewiesen, seinen Kraftstoffvorrat zu überprüfen, weil danach lange nichts kommt. Der Highway teilt sich noch einmal auf in den nördlichen Hwy 17 und den südlichen, etwas hügeligeren und längeren Hwy 11. Ich entscheide mich wieder einmal für die längere Strecke, weil ich hier deutlich weniger Verkehr erwarte – womit ich auch richtig liege. In Fort Frances komme ich dann das erste Mal seit Yukon wieder direkt an die Grenze zu den Vereinigten Staaten und kann es mir nicht verkneifen, zumindest in Gedanken einen unfreundlichen Gruß rüberzuschicken. Der Campingplatz im Ort ist, wie viele andere auch, offiziell geschlossen, kann aber genutzt werden – er ist die Hölle: Rasenflächen, die unter Wasser stehen, Mücken ohne Ende, die nur auf mich gewartet haben, Toiletten die nicht benutzbar sind und die ganze Nacht rollen die Güterzüge direkt am Platz vorbei in Richtung USA. Da ist jeder Platz in der Natur besser und ich bin froh, morgens wieder auf dem Rad zu sitzen. Die gut 500km zwischen Kenora und Thunder Bay am Lake Superior sind tatsächlich sehr einsam und es geht nicht ohne Wildcampen. Ist ja auch kein Problem, aber ab und zu habe ich doch das Bedürfnis nach einer heißen Dusche. In Atikokan gibt es lt. Google Maps einen Campingplatz. Es ist Sonntagabend als ich dort ankomme. Ein Ort mit ca. 1500 Einwohnern und selbsternannte Kanuhauptstadt (es gibt hier viele Orte die Hauptstadt von irgendwas sind). Wenn man einmal erleben möchte, was tiefste Provinz bedeutet, muss man hier einmal versuchen, hier gegen 19.00 Uhr an einem Sonntag etwas zu Essen zu bekommen. Alle Restaurants im Ort – einschließlich Pizza-Lieferdienste – haben geschlossen. Die Tankstelle hat nichts außer Softdrinks, Eis und Schokoriegeln. Nur das „Restaurant“ am Golfplatz hat noch geöffnet. Aber um 19.00 Uhr will man dort keine Bestellung mehr entgegennehmen. Ich kann das Personal schließlich doch noch überreden, mir eine Pizza zuzubereiten – ich muss allerdings nehmen, was an Belag noch da ist. Immerhin bin ich satt geworden. Auf dem Campingplatz komme ich endlich wieder einmal wieder zu einer heißen Dusche, auch wenn sich sonst offenbar schon länger keiner mehr um das Gelände gekümmert hat. Das Highlight in diesem Ort sind am nächsten Morgen kurz nach meinem Aufbruch drei männliche Weißwedelhirsche (das war die Vorlage von Walt Disney für Bambi), die auf dem Gelände liegen und keinerlei Scheu zeigen und sich aus nächster Nähe fotografieren lassen.

 

Nicht so oft gibt es einen guten Zugang zu den vielen Seen
Nicht so oft gibt es einen guten Zugang zu den vielen Seen
Viel Schnee im Winter, viel Regen im Frühling und Sommer lässt viele Flüsse und Seen überlaufen
Viel Schnee im Winter, viel Regen im Frühling und Sommer lässt viele Flüsse und Seen überlaufen
Tiefenentspannte Hirsche in der Kanu-Hauptstadt Atikokan
Tiefenentspannte Hirsche in der Kanu-Hauptstadt Atikokan


Kurz vor Thunder Bay treffen die beiden Highways wieder zusammen und entsprechend dicht ist der Verkehr. Auch hier gibt es eine Alternativroute und die bringt mich zu den Wasserfällen von Kakabeka. Ein kurzer Fotostopp und dann rolle ich in die erste Großstadt seit Winnipeg. Mit Thunder Bay erreiche ich auch den Lake Superior – zu Deutsch: Oberer See – und damit das nächste Superlativ auf dieser Route. Der Lake Superior ist nicht nur der größte der großen Seen Nordamerikas sondern auch der zweitgrößte (nach dem Kaspischen Meer) der Welt. Thunder Bay hat einen der größten Häfen Kanadas und von hier wird u. a. das Getreide aus der Prärie in alle Welt verschifft. Die Stadt lasse ich schnell hinter mir, kann mich hier aber schon mal an das Preisniveau auf den Campingplätzen gewöhnen, das mich erwartet, je weiter ich nach Westen komme: Auf dem städtischen Campingplatz bezahle ich ca. 40 Dollar für einen Platz ohne Wasser und Strom. Und obwohl sich gerade ein Bär in der Gegend herumtreibt, gibt es auch nicht die sonst üblichen bärensicheren Metallschränke. Inzwischen bin ich ja schon froh, wenn die Plätze nicht noch teurer sind. Kurz hinter Thunder Bay kommt dann noch DAS Nadelöhr des Trans-Canada-Highway: In Nipigon gibt es eine Brücke, über die der gesamte Straßenverkehr muss – es gibt in Kanada keine Alternative, es sei denn, man steigt auf die Bahn oder ein Schiff um.


Wasserfälle haben immer einen besonderen Reiz
Wasserfälle haben immer einen besonderen Reiz
Zwei Millionen Tonnen Getreide sollen die Speicher im Hafen von Thunder Bay aufnehmen können, das von hier in alle Welt verschifft wird
Zwei Millionen Tonnen Getreide sollen die Speicher im Hafen von Thunder Bay aufnehmen können, das von hier in alle Welt verschifft wird
Die meisten Leuchttürme an den Großen Seen haben ausgedient
Die meisten Leuchttürme an den Großen Seen haben ausgedient
DAS Nadelöhr Kanadas: Die Brücke bei Nipigon ist die einzige Straßenverbingung zwischen Ost und West
DAS Nadelöhr Kanadas: Die Brücke bei Nipigon ist die einzige Straßenverbingung zwischen Ost und West


Einige Tage bin ich jetzt am Nordufer des Lake Superior unterwegs, der nicht nur Trinkwasserqualität hat, sondern wegen seiner Größe und des kalten Wassers das Wetter maßgeblich mit bestimmt. Mehr als einmal fahre ich im dichten, kalten Nebel und das eine oder andere Gewitter zieht über den See. Aber auch strahlenden Sonnenschein und blauen Himmel hat der See zu bieten, den ich nach sechs Tagen und gut 750km bei Sault Ste. Marie endgültig verlasse, wo ich noch einmal mit Blick auf die riesigen Schleusen einen unfreundlichen Gruß Richtung USA loswerde. 

 

Die Brücke verbindet Kanada mit den USA, die Schleusen den Lake Superior mit dem Lake Huron
Die Brücke verbindet Kanada mit den USA, die Schleusen den Lake Superior mit dem Lake Huron
Je weiter ich nach Osten komme, desto mehr alte Gebäude prägen die Ortschaften
Je weiter ich nach Osten komme, desto mehr alte Gebäude prägen die Ortschaften


Was mir seit meiner Ankunft in Ontario trotz der unendlich weiten Natur fehlt, sind die Begegnungen mit Wildtieren, die mich im Norden so begeistert haben. Wahrscheinlich ist der Straßenverkehr einfach zu dicht und das Wild ist nur nachts unterwegs. Ein ungewöhnliches Zusammentreffen gab es aber doch. Ich bin mal wieder in einer Gegend unterwegs, in der Campingplätze Mangelware sind. Als die Dämmerung schon langsam einsetzt, komme ich über die Schlucht des Little Pic River. Kurz hinter der Brücke ist ein größeres offenes Gelände und ich entschließe mich spontan, hier mein Nachtlage aufzuschlagen. Als ich außer Sichtweite der Straße mein Zelt aufbaue, geht ein Luchs langsam und ohne von mir Notiz zu nehmen über den freien Platz. Ich bekomme die Kamera gerade noch in die Hand und mache im letzten Moment, bevor er wieder im Wald verschwindet, ein Foto – die Kamera war noch vom vorherigen Foto verstellt. Ich weiß, wo der Luchs auf dem Bild ist! Aber es ist mein einziges und damit auch mein bestes Bild von einem Luchs in freier Wildbahn!  


Er ist drauf - wirklich!
Er ist drauf - wirklich!


Ab Sault Ste. Marie gibt es für mich endlich auch Alternativen zum Seitenstreifen an den Highways. Oft bin ich auf Abschnitten des Trans Canada Trails oder anderen Trails an oder um die großen Seen unterwegs, die entweder auf ruhigen Nebenstraßen geführt werden oder dort, wo man die großen Highways benutzen muss, gibt es gute, breite Seitenstreifen, auf denen man sicher unterwegs ist, auch wenn der Verkehrslärm schon nervt.

 


Kurz hinter Sault Ste. Marie bin ich bei Desbarates auf einer dieser Nebenstraßen unterwegs. Auch wenn die Berge hier nicht wie auf den Highways glattgebügelt sind und ich in der hügeligen Landschaft auch schon mal in die ganz kleinen Gänge muss, genieße ich die Ruhe komme hier zu einer der ungewöhnlichsten Begegnungen meiner bisherigen Tour. Auf einem Bauernhof ist ein Bagger dabei, Baumstümpfe zu roden. Mittendrin sehe ich ein Gespann mit zwei Arbeitspferden. Kurz vor mir biegt dieses Fuhrwerk auf die Straße und ich folge ihm im gemächlichen Tempo für ca. einen Kilometer. Der Wagen ist eine sehr schlichte, robuste Konstruktion mit Eisenreifen. Auf der Ladefläche stehen zwei Männer, augenscheinlich Vater und Sohn, beide in dunklen, zu großen Arbeitshosen, die von Hosenträgern gehalten werden, karierten Hemden, Strohhüten und Sonnenbrillen. Als das Gespann bei einem Sägewerk anhält, in dem offenbar auch mit sehr einfachen Mitteln gearbeitet wird, folge ich auf das Grundstück und möchte mehr erfahren. Die Beiden sind freundlich und wir unterhalten uns eine Weile, allerdings werden sie sehr einsilbig bei Fragen nach ihrer Art zu Leben und zu Arbeiten und ihrem Glauben. Auf meine direkte Frage, ob sie Amish People wären, bekomme ich nur zur Antwort, so etwas in der Art. Irgendwie ist klar, dass ich hier die Kamera nicht herauszuholen brauche und so gibt es von dieser Begegnung leider keine Fotos. Aber es bleibt nicht bei dieser Begegnung. Ich komme an eine Art Hofladen, wo frisches Obst, Gemüse, Backwaren und sonstige Sachen aus eigener Produktion angeboten werden und wo reger Kundenbetrieb herrscht. Wie schon bei den Hutterern tragen die Frauen und Mädchen auch hier lange, dunkle Kleider und Hauben auf dem Kopf. Die Männer sind ähnlich gekleidet, wie die beiden bei meiner ersten Begegnung. Ich gehe in den Laden, kaufe auch einige Kleinigkeiten, aber auch hier komme ich nicht so richtig ins Gespräch mit den Menschen. Auf der Straße begegne ich immer wieder Pferdegespanne mit schwarzen Kutschen in denen einzelne Menschen oder ganze Familien unterwegs sind. Auf einem Feld mähen zwei junge Burschen mit drei Pferden und einem Selbstbinder das noch grüne Getreide, das in Garben zum Trocknen aufgestellt wird. Hier frage ich, ob ich ein Foto machen dürfe und bekomme nach einigem Zögern die Erlaubnis. Hier herfahre ich auch, dass es sich um Mennoniten handelt und das hier ca. 50 Familien nach strengen Regeln leben. Später lese ich dann nach, dass es sich bei der Gruppe um Alt-Mennoniten handelt, die sich sehr eng an alte Regeln halten und alles Moderne wie Elektrizität, Autos, Telefon und Computer ablehnen. Auf meiner Tour in Richtung Osten begegne ich immer wieder auf Mennoniten, aber je näher ich dem Zentrum der Glaubensgemeinschaft in St. Jacobs komme, desto moderner werden die Arbeitsmethoden und die Bauernhöfe. Nur an den Pferdekutschen wird teilweise noch festgehalten und so gibt es in St. Jacobs auf den Parkplätzen vor den Super- und Baumärkten extra Bereiche für Pferdekutschen, die auch gut genutzt werden. In St. Jacobs gibt es auch einen riesigen Farmers Market der Mennoniten, der an drei Tagen in der Woche geöffnet ist, leider nur nicht montags, als ich dort durchkomme. Übrigens sprechen die Mennoniten im Alltag Deutsch miteinander. Allerdings sind wir nicht in der Lage uns auf Deutsch zu unterhalten. Weder verstehen sie mich, noch habe ich irgendeine Idee, was sie mir sagen wollen. Der süddeutsch-schweizerische Dialekt, gemischt mit Einflüssen aus Pennsylvania, ist absolut unverständlich.

 


Auch wenn ich den Lake Superior hinter mir gelassen habe, bleibe ich den Großen Seen treu. Jetzt ist es der Lake Huron, dessen Ufer ich folge. Auch der ist so groß, dass man selbst am North Channel und der Georgian Bay keine Chance hat, das gegenüberliegende Ufer zu sehen. Auf meinem Weg Richtung Niagara Fälle und Toronto entscheide ich mich hier (ausnahmsweise) einmal für die kürzere Strecke über Manitoulin. Man ahnt es schon, es handelt sich wieder mal um ein Superlativ, nämlich die größte Insel der Welt in einem See. Die Insel wird überwiegend von Indianern bewohnt und am ersten Augustwochenende findet ein großes PowWow statt – ich bin leider eine Woche zu spät. Irgendwie will es mit solchen Terminen auf dieser Tour nicht passen. Von der Insel bringt mich eine Fähre auf die Bruce Peninsula, wo es mehrere Nationalparks gibt, steile Klippen und wunderschöne Strände. Die Nähe zum Ballungsraum um Toronto macht die Halbinsel zu einem beliebten Urlaubs- und Freizeitziel. Mit Glück bekomme ich auf dem gigantischen Campingplatz des Bruce Peninsula National Parks noch einen Stellplatz – Entfernung zum funkelnagelneuen Sanitärgebäude: ein Kilometer. Auch hier gibt es Schwarzbären, aber keine Schließfächer für die Lebensmittel. Allerdings einen außergewöhnlichen Service für Wanderer und Radfahrer gibt es leihweise „bear boxes“. Ich will sie beim Check in gleich mitnehmen – geht nicht, sie wird gebracht. Bevor mein Zelt steht, ist die Box da: ca. 30kg schwer und so groß, dass ein Bär durchaus Platz darin gehabt hätte. Den Abend beschließe ich mit einer kleinen Wanderung an die Küste zur Grotte. Die Masse der Menschen, die hier baden, tauchen, von den Klippen springen oder für Selfies posen lässt mich am Sinn von Nationalparks zweifeln. Wenigstens sind hier die Streifenhörnchen so zutraulich und mit Nüssen bestechlich, dass mir am nächsten Morgen vor meiner Abfahrt noch ein paar schöne Nahaufnahmen gelingen.

 

Über eine alte Drehbrücke gelangt man auf die Insel Manitoulin
Über eine alte Drehbrücke gelangt man auf die Insel Manitoulin
Die Wartezeit bis zur Abfahrt zur Fähre kann man nutzen
Die Wartezeit bis zur Abfahrt zur Fähre kann man nutzen
Mit dem "Großen Kanu" geht's über den Lake Huron zur Bruce Peninsula
Mit dem "Großen Kanu" geht's über den Lake Huron zur Bruce Peninsula
Bärensichere Futterbox
Bärensichere Futterbox
Morgendlicher Besuch beim Frühstück
Morgendlicher Besuch beim Frühstück


Auf dieser Halbinsel will ich denn auch endlich einmal eine kleine Wanderung auf den Lions Head Lookout machen. Über rutschigen Kalkstein geht es durch den Wald auf  die spektakuläre Klippe und ich merke wieder einmal, dass Fahrradschuhe mit den Metallplatten nicht zum Wandern auf Stein geeignet sind. Naja – einem Abgrund ohne Geländer nähere ich mich auch sonst nur mit Sicherheitsabstand. Nach meiner Rückkehr in den Ort Lions Head treffe ich zwei andere Radfahrer, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs sind und mir den Tipp geben, auf einem Campingplatz am Bass Lake zu übernachten. Da die Auswahl ohnehin nicht sehr groß ist und die Strecke auch für den Nachmittag passt, mache ich den kleinen Umweg und komme relativ spät dort an. Es wird Live-Musik gespielt und scheinbar sind alle Camper hier versammelt. Das kann ja mal wieder eine unruhige Nacht werden. Die Inhaberin ist super nett, erzählt, dass sie eigentlich nur Dauercamper haben, bietet mir aber an, auf einer Rasenfläche etwas abseits zu zelten. Meine Lebensmittel müsse ich aber in einem Wohnwagen lagern, da sich ein Bär in der Gegend herumtreibt. Alternativ könne ich aber auch selbst im klimatisierten Wohnwagen übernachten – zum selben Preis wie auf der Zeltwiese. Da es auch am späten Abend noch schwül-warm ist, willige ich gern ein und komme so einmal in den Genuss, in so einem riesigen Wohnwagen zu schlafen, mit vollwertiger Küche, Bad und einem separaten Schlafzimmer. Nicht nur die Eigentümerin, auch die Camper sind außergewöhnlich nett, es herrscht eine sehr entspannte, familiäre Atmosphäre und die Lage am Bass Lake ist ein Traum. Und wider Erwarten ist es trotz Live-Musik und Bingo in der Bootshalle um 22.00 Uhr zappenduster und es herrscht absolute Stille. Einfach perfekt. Meinen Aufenthalt in diesem kleinen Paradies beende ich morgens mit einem Sprung in das glasklare, warme Wasser des Sees. Wenn es doch auf allen Campingplätzen so wäre!

 

Meine Unterkunft für eine Nacht
Meine Unterkunft für eine Nacht
Das Platzangebot ist üppig!
Das Platzangebot ist üppig!


Mein nächstes Ziel sind die Niagarafälle, ein Umweg, aber dieses Naturschauspiel will ich mir nicht entgehen lassen. Auf dem Weg komme ich nicht nur durch das wichtigste Siedlungsgebiet der Mennoniten, sondern in und um Kitchener, das bis zum ersten Weltkrieg Berlin hieß, siedelten sich auch viele anderen Deutsche, Niederländer und Skandinavier an, was man nicht nur an den Ortsnamen erkennen kann (z. B. Hanover, Neustadt, Holstein) sondern auch an den Bauernhöfen, die offenkundig auf Effizienz getrimmt sind und genauso gut in Niedersachsen oder in Holland stehen könnten. Alles sehr ordentlich und aufgeräumt mit teilweise villenartigen Wohnhäusern und großen Rasenflächen, die bis an die Straßen- und Ackerränder exakt gemäht sind. Hier sucht man vergeblich ausgediente Fahrzeuge und Maschinen aus mehreren Generationen, die vor sich hin rosten.

Bei Hamilton erreiche ich nicht nur den Lake Ontario, dem letzten der großen Seen auf meinem Weg durch Kanada, sondern hier beginnt auch schon der Großraum Toronto, in dem die Großstädte nahtlos ineinander übergehen. Auf der Fahrt nach Niagara Falls wechseln sich Abschnitte auf einer Straße direkt neben der sechsspurigen, stark befahrenen Autobahn und promenadenartigen Wegen am See ab, wo viele Luxusvillen auf parkartigen Grundstücken stehen.

Mit Massentourismus an den Niagarafällen hatte ich ja gerechnet, nicht aber mit diesem Rummel, mit dieser Masse an gigantischen Luxushotels, Spielkasinos und allem anderen, womit man den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen kann. Und Dank Corona sind Japaner und Chinesen noch nicht einmal dabei. Und die Russen fehlen auch. Ein Spaziergang auf einem nur ein paar hundert Meter langen Bohlensteg an den Stromschnellen unterhalb der Wasserfälle lässt man sich hier mit 20 Dollar bezahlen. Im Fahrstuhl bin ich allein mit der Frau, die die Befugnis hat, den Aufzug zu bedienen. Sie erzählt, dass man in Spitzenzeiten schon mal zwei Stunden warten muss, um bis zum Lift vorzudringen. 63 Dollar für einen eher schlichten Campingplatz am Ortsrand ohne Strom und Wasser ist auf der Tour auch der bisherige Spitzenpreis. Die Wasserfälle selbst kann ich aus gekannten Gründen nur von kanadischer Seite sehen – und das habe ich gleich dreimal gemacht. Bei meiner Ankunft war der Himmel bedeckt, am nächsten Morgen bin ich bei Sonnenschein vor dem Aufbruch in Richtung Toronto noch einmal zurückgekehrt, und dazwischen war ich am späten Abend noch einmal da, um mir die kitschig-bunte Beleuchtung anzusehen. Allen anderen Rummel habe ich mir erspart. Hier sind die Bilder dieser Extrarunde:



Von jetzt an geht es wieder in nordöstliche Richtung zum Ziel meiner Reise. Auf dem Weg dorthin liegen noch einige Metropolen, die ich nicht auslassen will. Die größte dieser Städte ist Toronto, die Hauptstadt Ontarios und das wirtschaftliche Herz Kanadas. Ursprünglich hatte ich mir überlegt, drei Nächte in der Stadt zu bleiben, um mir einiges anzusehen und mich auch auszuruhen, was nach 8000km in knapp zweieinhalb Monaten auch dringend erforderlich wäre. Allerdings sind die Hotelpreise in der Stadt so astronomisch, dass ich nur zwei Nächte in einem Motel am Stadtrand bleibe. Mit knapp 300 Euro ist es noch eine der günstigsten Unterkünfte, denn ein Bett im Schlafsaal eines Hostels will ich mir nicht antun – und auch die sind richtig teuer. Für drei Nächte im Stadtzentrum kann man locker ab 600 Euro veranschlagen.


Ganz bescheiden, nichts Großes am See
Ganz bescheiden, nichts Großes am See
Wein und Obstanbau prägen die Landschaft um die Niagarafälle
Wein und Obstanbau prägen die Landschaft um die Niagarafälle


20 Kilometer sind es bis ins Zentrum der 6,4 Millionen-Stadt, die Hälfte davon auf einem hervorragenden Fahrweg am Ontariosee. Auch sonst ist die Stadt recht gut für Radfahrer erschlossen und es ist kein Problem eine Sightseeingtour mit dem Rad zu unternehmen. Höhepunkt im wahrsten Sinne ist natürlich der Besuch des CN-Towers, bis vor wenigen Jahren noch das höchste freistehende Gebäude der Welt. In knapp einer Minute lasse ich mich mit dem gläsernen Aufzug auf 346m Höhe bringen und genieße bei bestem Wetter den Blick auf die Stadt und den See. Die nächste Ebene in 447m Höhe verweigert der Automat, der meine Kreditkarte nicht akzeptiert, mit der ich unten noch bezahlt hatte und Barzahlung ist nicht möglich. Und den Edgewalk, angeleint auf einem 1,5m breiten Rundweg oberhalb der ersten Plattform, möchte ich mir nicht antun. Ansonsten habe ich kein Museum, keinen Zoo, kein Aquarium und keine Ausstellung besucht, sondern nur die Hochhausschluchten, das Panorama und natürlich den bizarren, bunten Stadtteil Kensington Market am Rande der Geschäfts- und Bankviertels auf mich wirken lassen. Mehr ist an einem Tag auch kaum möglich. Ich hatte hier mit deutlich mehr Menschen und dichterem Verkehr gerechnet und bin beeindruckt, wie gepflegt alles ist und ich nie das Gefühl habe, in eine unsichere Gegend zu kommen. Sicher gibt es die auch in so einer Megastadt, aber eben nicht dort, wo das große Geld gemacht wird. Und mir ist jetzt völlig klar, dass die Menschen aus den ländlichen Gegenden und der Wildnis nichts mit dieser Umgebung am Hut haben – unterschiedlicher kann man wohl kaum innerhalb eines Landes leben. Die Bilder sollen einige Eindrücke widergeben.



Bis Ottawa liegen etwa 500km vor mir und dann werde ich Ontario verlassen und in den französischsprachigen Teil Kanadas fahren – ich werde weiter berichten. 

Von Toronto nach Ottawa


Inzwischen habe ich Québec hinter mir gelassen. Von Québec City benötigte ich noch noch vier Tage, um nach New Brunswick zu kommen und habe damit von der größten kanadischen Provinz, die so komplett anders ist als alle anderen, nicht so viel gesehen.

Aber ich bin ja noch den Rest von Ontario schuldig, denn mein letzter Bericht endete in Toronto und von dort nach Ottawa, der Hauptstadt dieses riesigen Landes sind es noch einmal ca. 500km und weil Ottawa auch direkt auf der Grenze zu Québec liegt, verlässt man mit der Überquerung des Ottawa-Flusses vorübergehend den englischsprachigen Teil Kanadas. Auch wenn Ontario nicht ganz so groß wie die Provinz Québec ist, sind die Dimensionen kaum auf Europa übertragbar. Vom Verlassen der Prärie Manitobas bis nach Ottawa habe ich mit dem Rad 29 Tage gebraucht, ohne einen richtigen Ruhetag einzulegen. Nur in Toronto und Ottawa habe ich es ein wenig ruhiger angehen lassen und bin in den Städten nur jeweils 50km gefahren, weil meine Unterkünfte immer ein Stück außerhalb der Zentren lagen. Rund 3200km sind in Ontario mit der kleinen Extraschleife zu den Niagarafällen zusammengekommen – und trotzdem habe ich nur einen kleine Teil der Provinz gesehen, zumal der weitaus größere Teil nur mit dem Flugzeug oder dem Boot erreichbar ist. Da kommt schon Verständnis für Menschen auf, die noch nie das jeweils andere Ende der Provinz, geschweige des Landes besucht haben.

 


Der Osten Ontarios ist aber auch komplett anders. Hier habe ich auch was die Strecke angeht einige Alternativen. Und es gibt viele gut ausgebaute und ausgeschilderte Fahrradtrails, denn Rad fahren ist hier offenbar sehr populär, auch wenn es in der Mehrzahl Rennräder sind. Auf solchen innerstädtischen Trails verlasse ich dann auch die Millionenmetropole Toronto entlang des Ontariosees, vorbei an breiten Sandstränden, Sportanlagen und schmucken Vorstädten. Dass ich hier in einem riesigen Ballungsraum mit sehr vielen Menschen bin und dann noch in der Hauptsaison, merke ich bei allabendlichen Suche nach einem Campingplatz, die es hier zwar reichlich gibt, allerdings meistens restlos ausgebucht oder extrem teuer. Meine Anmerkung zu dem Preis für ein kleines Stück Rasen für eine Nacht, dass ich den Stellplatz nicht kaufen will, hat die Dame an der Rezeption nicht verstanden. Dafür gibt es aber auf in dem Toilettenhäuschen in dem Bereich für die Zelte nicht einmal ein Handwaschbecken!

 

Sehr gepflegte und gut besuchte Strände am Ontariosee bei Toronto
Sehr gepflegte und gut besuchte Strände am Ontariosee bei Toronto
Very British - Bowling als Mannschaftssport
Very British - Bowling als Mannschaftssport


Nicht wegen der Preise, sondern weil es schlicht keine Alternative gibt, lande ich dann immer wieder einmal irgendwo in der Natur. Da die Besiedelung dichter wird und auch überall Landwirtschaft betrieben wird, frage ich auf den Farmen lieber, um sicher zu sein, dass mich nachts keiner vertreibt. Wenn ich dann meinen Spruch von der Durchquerung Kanadas mit dem Fahrrad aufsage, ist der Platz auf dem Hof auch schon so gut wie sicher – und je schlichter und unaufgeräumter die Farm, desto unkomplizierter. Meistens sind die Nächte an solchen Orten viel ungestörter als auf den großen, lauten Campingplätzen. Das einzige, was fehlt, ist eine ordentliche Dusche.

 

Wenn auch nicht unbedingt komfortabler aber auf jeden Fall ruhiger als jeder Campingplatz
Wenn auch nicht unbedingt komfortabler aber auf jeden Fall ruhiger als jeder Campingplatz


Ideal sind für mich immer die Trails auf ehemaligen Bahntrassen – eben, keine große Steigungen und hierzulande meistens in hervorragendem Zustand. Aus Toronto heraus folge ich für ca. 50 km dem Millenium-Trail: Ebener Schotter, Pausenstellen mit Toiletten und Schutzhütten und sogar Werkzeug für kleine Reparaturen am Fahrrad. Der einzige Nachteil ist, dass man sich den Trail auch mit Quads teilen muss und dann in eine Staubwolke gehüllt wird.

 


In Glenora habe ich mit einer Fähre einen kleinen Seitenarm des Ontariosees überquert und mich damit endgültig von den großen Seen Nordamerikas verabschiedet. Drei Tage auf staubigen Trails, aber auch durch sehr schöne Naturschutzgebiete, zwei Nächte in Folge auf Farmgelände haben eine interessante Mischung aus Staub, Schweiß und Salz auf der Haut in der Kleidung hinterlassen, als ich am späten Nachmittag in Sydenham ankomme. Weil es in der Gegend auch keinen Campinplatz gibt, bereite ich mich gedanklich auf die nächste Nacht in der Natur vor und will hier noch einmal meine Wasservorräte auffüllen. Vor dem kleinen Dorfladen sitzt eine Familie beim Eis essen. Es folgen die üblichen Fragen und was überhaupt nicht üblich ist, eine Einladung auf dem Grundstück der Familie zu übernachten. Dieses liegt nur ein paar Kilometer weiter direkt an dem etwa 100km langen Cataraqui-Trail, den ich ohnehin fahren will. Obwohl es noch relativ früh ist, nehme ich gern an und lande auf einem Traumgrundstück direkt am See mit eigenem Steg, Booten, Badeinseln und allem, was das Herz begehrt. Der Sprung in den warmen, glasklaren See ersetzt die Dusche und das frühe Ende der Etappe nutze ich, um ein bisschen zu regenerieren. Am nächsten Morgen ist die Familie mit den drei kleinen Kindern schon um 07.00 Uhr in Richtung Zoo von Toronto verschwunden, nicht ohne mir noch anzubieten, Kajaks, Kanus, SUPs zu nutzen, wie ich Lust hätte. Das Angebot, den See mit seinen zahlreichen Inseln und Buchten so genauer zu erkunden ist verlockend, ich belasse es aber bei einer Runde im Wasser und starte erholt und erfrischt auf den nächsten Trail.

 

Die Landschaft und Natur am Cataraqui Trail sind eine Augenweide
Die Landschaft und Natur am Cataraqui Trail sind eine Augenweide


Der kostet mich allerdings auf den ersten 30km sehr viel Zeit. Nicht weil die Strecke so schwer wäre, sondern weil diese einfach wunderschön ist und ich kaum einen Kilometer fahren kann, ohne anzuhalten, um Landschaft oder Tiere zu fotografieren: Schlangen, Schildkröten, Biber, Hirsche, Vögel… Die Entscheidung schon vor dem Start, die übrigen 150km bis Ottawa in zwei Etappen zu fahren erweist sich als goldrichtig und so kann ich entspannt den Trail genießen. Und es ist ein ungestörter Genuss, denn ich treffe an diesem Tag gerade einmal sechs andere Menschen auf 70km.



Allerdings gibt gegen Mittag noch eine Begegnung der ganz besonderen Art. Ich bin auf der Suche nach einem Ort, wo ich etwas Essen kann, als ich an einem Haus ankomme, wo Getränke zur kostenlosen Selbstbedienung am Trail stehen. Das Haus ist ein Kuriosum: An der einen Giebelseite ist ein Schaufelrad, wie bei einem Raddampfer angebracht. Vor dem Haus stehen drei Harley Davidson und überall auf dem Gelände sehr phantasievolle Details, die es schwer machen, zu erahnen, wer der Schöpfer dieser Dinge ist. Dieser ist „Captain Mike“. Etwa Mitte 60 Jahre als, langer, weißer Bart, mit freiem Oberkörper und dickem Bauch liegt er gerade unter dem Auto seiner Nachbarin und repariert die Bremsen. Da ich das Haus mit den Getränken am Weg für ein Restaurant halte, frage ich nach einem Lunch, das ich selbstverständlich bekommen konnte. Die Eigentümerin des reparaturbedürftigen Autos drückt mir ein dick mit Fleischsalat belegtes Sandwich und eine Dose Pepsi light in die Hand und als ich bezahlen will bekomme ich nur zu hören: „We are all living from the same source.“ Und damit war sie damit durch.

 

Sehr schön gelegen und sehr eigenwillig gestaltet...
Sehr schön gelegen und sehr eigenwillig gestaltet...
Wenn die Phantasie mit dem Hausherrn durchgeht, wird aus dem Haus ein Raddampfer
Wenn die Phantasie mit dem Hausherrn durchgeht, wird aus dem Haus ein Raddampfer
Kanonenboot und ein eigenwilliges Amphibienfahrzeug
Kanonenboot und ein eigenwilliges Amphibienfahrzeug
Klepper trifft's hier wohl ganz gut
Klepper trifft's hier wohl ganz gut
Eins davon fährt noch...
Eins davon fährt noch...


Mein Lunch habe ich am Seeufer beim „Kanonenboot“ und dem zum Amphibienfahrzeug umgestalteten Toyota verzehrt. Danach und nach erledigter Autoreparatur hat „Captain Mike“ Zeit für mich und erzählt mir beim Dessert der Nachbarin (Marshmellows mit Butter aufgelöst und mit Puffreis vermischt – extrem süß und klebrig) seine Lebensgeschichte und wie er durch Schicksalsschläge zu Jesus gefunden hatte und seine Nachbarin wird dabei nicht müde, zu versichern, was für ein guter Mensch er wäre. Und für mein nächstes Nachtlager in Smith Falls will er auch gleich sorgen, telefoniert mit einem Bekannten, der aber keine Platz auf seinem Grundstück hat, aber versichert, es gibt im Ort einen gemeindlichen Campingplatz und dorthin will er mir selbstgemachte Hamburger bringen. Bei aller Kuriosität waren diese beiden Menschen so herzlich, nett und hilfsbereit, wie ich es selten erlebt habe. Verabschiedet werde ich dann mit den Worten: „God bless you! We see us in heaven – but not so soon!“


Kein Zweifel, ich bin noch auf dem richtigen Weg. Immer wieder fahre ich Strecken auf dem Trans Canada Trail
Kein Zweifel, ich bin noch auf dem richtigen Weg. Immer wieder fahre ich Strecken auf dem Trans Canada Trail


Durch viele Fotostopps am Morgen und eine außergewöhnliche Mittagspause ist es spät geworden und in Smith Falls warten Hamburger auf mich, und es sind noch 50km zu fahren. Die Strecke bietet auch nicht mehr so viel Abwechslung wie am Vormittag und so bin ich nach drei Stunden an den Schleusen des Rideau Canals in Smith Falls, wo eigentlich der Campingplatz sein sollte. Nur davon fehlt jede Spur, genauso wie vom hilfsbereiten Freund von Captain Mike. Anwohner erklären mir, dass es den Campingplatz schon seit zwei Jahren nicht mehr gibt und so habe ich jetzt wieder das Problem, kurzfristig eine Übernachtungsmöglichkeit finden zu müssen. Meine App mit allen möglichen und unmöglichen Campingplätzen weist für Smith Falls einen Park aus, wo andere schon ohne Schwierigkeiten gezeltet hatten. Ist so gar nicht mein Ding, in einem öffentlichen Park zu über nachten, umgeben von Spiel- und Sportplätzen. Ich warte bis die Dämmerung einsetzt und es deutlich ruhiger im Park wird, bis ich mein Zelt aufschlage und tatsächlich ohne große Störungen an einem See im Park übernachte. Noch besser wäre die Nacht gewesen, wenn nicht meine ISO-Matte den Geist aufgegeben hätte und ich diese am nächsten Tag in Ottawa ersetzen müsste. Am nächsten Morgen breche ich lieber früh auf, bevor im Park der Betrieb losgeht.

 


So komme ich sehr rechtzeitig in Ottawa an, wo ich ein B&B ohne Breakfast für zwei Nächte gebucht habe, da dieses etwas außerhalb des Zentrums einen ganz vertretbaren Preis anbot. Allerdings ist es auch wieder einmal eine sehr spezielle Bleibe. Der Inhaber ist Musiker aus Afghanistan, der in Indien und den Niederlanden studiert hat, sieben Sprachen spricht und in zwölf Sprachen singt. Ein Foto im Flur zeigt ihn zusammen mit der niederländischen Königin und im Keller zeigt er mir seine Instrumentensammlung und sein Tonstudio und lässt es sich nicht nehmen, mir eine Kostprobe seines Könnens zu geben – eine sehr spezielle Musik. Außerdem setzt er in siebter Generation die Kunst der Kaligraphie fort und zahlreiche seiner Werke schmücken die Wände. Auch mein Zimmer ist speziell: Direkt neben dem Eingang war es in dem ehemaligen Einfamilienhaus wohl das Wohnzimmer mit einer Doppelflügeltür, die sich nicht abschließen lässt, Lichtschalter im Flur und wenn man das Licht anmacht, springt auch ein Drucker an, der im Zimmer steht. Egal, ich will hier nur zwei Nächte schlafen und meine Schmutzwäsche liegt abends gewaschen, getrocknet und zusammengelegt für 5 Dollar auf dem Bett – was will ich mehr.

 

Die ewige Flamme vor dem Parlament in Ottawa wurde zum 100jährigen Bestehen der Konföderation entzündet
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Terry Fox - eine kanadische Legende
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Es bleibt mir noch Zeit, in die Innenstadt zu fahren und mir eine neue Iso-Matte zu kaufen. In der einsetzenden Dämmerung sammele ich noch erste Eindrücke vom Parliament Hill ein. Das Parlamentsgebäude wird allerdings zurzeit von Grund auf saniert. Bis es fertig ist, kann ich nicht warten, denn die Arbeiten sollen noch zehn Jahre dauern. Die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Altstadt sind fußläufig zu erkunden und das verschiebe ich auf den nächsten Tag und den Feuerwerkswettbewerb über dem Ottawa-Fluss warte ich auch nicht ab. Dafür bin ich zu müde und ich muss ja auch noch in meine Unterkunft zurück.

Den zweiten Tag in der Hauptstadt will ich mit dem Wachwechsel der Garde vor dem Parlament um 10.00 Uhr beginnen. Ich bin früh unterwegs und entschließe mich spontan, vorher zum Frisör zu gehen – ist nach mehr als zwei Monaten auf Tour mehr als überfällig. Volles Risiko, nach mehr als 25 Jahren einen anderen Frisör an meinen Kopf zu lassen. Der Mann nimmt seinen Job sehr ernst und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen, allerdings komme ich deswegen zum Wachwechsel vermeintlich zu spät. Erst später finde ich heraus, dass die Zeremonie wegen der Bauarbeiten in diesem Jahr nicht durchgeführt wird. Immerhin habe ich Zeit sinnvoll genutzt.


Eine kleine Auswahl der Sehenswüdrigkeiten um den Parliamentshill


Sowohl der Senat als auch das House of Commons sind wegen der Sanierungsarbeiten in Provisorien ausgelagert – der Senat in einem ehemaligen Bahnhof, das Unterhaus in einem überdachten Innenhof eines Regierungsgebäudes direkt neben dem Parlament. Beide habe ich besucht und muss sagen, ich habe selten so gelungene Provisorien gesehen. Besonders die moderne Stahl- und Glaskonstruktion über dem House of Commons, deren Gestaltung an ein Kronendach im Wald erinnert, in Kombination mit dem sehr traditionellen, bis ins Detail dem britischen Parlament nachempfundenen Sitzungssaal, hat mich begeistert. Den Rest des Tages habe ich mit Stippvisiten anderer Sehenswürdigkeiten der Stadt verbracht, für mehr reicht ein Tag nicht aus. Ottawa ist zwar auch eine Millionenstadt, aber in seinem Zentrum so gänzlich anders als Toronto, dass sich ein Vergleich komplett verbietet. Insbesondere die Gegend um den Parliament Hill könnte auch irgendwo auf der britischen Insel liegen.



Damit verlasse ich Ontario nach einem Monat und fahre am nächsten Morgen über den Ottawa nach Québec - es ist, als käme man in ein anderes Land. Und hier geht es weiter: