Nein, jetzt kommt keine Märchenstunde. Und wenn, dann würde es wohl heißen "Das Märchen vom feigen Wolf". Gestern gegen Mittag radelte ich in Lettland bei strahlendem Sonnenschein und endlich einmal mit gutem Rückenwind in Richtung der Hafenstadt Ventspils durch scheinbar endlose Wälder und hatte eigentlich nichts anderes im Sinn, als immer schnell genug zu sein, um nicht von der Horde Fliegen und Bremsen, die mir im Windschatten folgten, überholt zu werden, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Wenig Verkehr, wenig Abwechslung - und plötzlich, wie aus dem Nichts, springt von links ein leibhaftiger Wolf auf die Straße, bekommt bei meinem Anblick einen gehörigen Schrecken und verschwindet ca. 10m vor mir rechts im Gebüsch. Nein, Fliegen, Bremsen und Mücken haben ihr Werk nicht vollendet, auf die kurze Distanz gibt es für mich keinen Zweifel, dass es ein Wolf war. Allerdings werde ich auch nicht wie der amerikanische Naturfotograf Jim Brandenburg über sein bekanntestes Wolfsfoto sagen können: "This picture changed my life!" Es gibt einfach kein Foto. Es waren nur wenige Sekunden und trotzdem ein tolles Erlebnis, mit dem ich nie gerechnet hätte.
Aber wieder einmal fange ich meinen Bericht hinten an. Also jetzt immer schön der Reihe nach. Zuletzt hatte ich begeistert aus Danzig berichtet. Nach der zweiten Nacht verlasse ich die Stadt in Richtung Marienburg. Diesen Abstecher zum UNESO-Welterbe gönne ich mir und es ist jeden Kilometer extra wert. Die größte Backsteinburg der Welt, die dem Deutschen Ritterorden im Mittelalter als Residenz diente, ist auch ein Beispiel dafür, mit welchem Aufwand Polen die Zerstörungen des 2. Weltkrieges beseitigt hat, denn auch die Marienburg wurde kurz vor Ende des Krieges in Schutt und Asche gelegt, was kaum zu glauben ist, wenn man die Anlage heute sieht. Einzig in der Klosterkirche wird deutlich, was hier ein für alle Mal vernichtet wurde
Jetzt steht aber der erste spannende Teil der Reise auf dem Plan. Der Grenzübertritt in die Oblast Kaliningrad und damit nach Russland. Viel habe ich vor zeitraubenden Kontrollen und dem Gefühl der Ohnmacht und Willkür bei der Einreise gehört. Die Grenzkontrollen ziehen sich über mehrere hundert Meter hin und das System - wenn es denn eines gibt - habe ich nicht verstanden. Insgesamt sind vier Stationen zu bewältigen. An der Hauptkontrolle, wo es auch den Einreisestempel gibt, sind in der Abfertigungsspur für nicht russische Staatsangehörige nur zwei Fahrzeuge vor mir. Alles geht recht zügig. Keine Kontrolle des Gepäcks, kein Gefühl der Schikane. Allerdings werde ich hier, wie auch später bei der Ausreise, nach meinem Visum und dem Grund meines Aufenthaltes im Iran befragt, und ich werde das Gefühl nicht los, dass dieses Visum hier ganz nützlich ist. Auf jeden Fall bin ich recht schnell und unkompliziert durch die Abfertigung.
Und mit einem Mal bin ich in einer anderen Welt. Alles wirkt heruntergekommen und marode. Viele der Felder an der Straße sind nicht bestellt, in den kleinen Ortschaften herrscht der Verfall. Und immer wieder passiere ich riesige Gedenkstätten für die gefallenen russischen Soldaten des 2. Weltkrieges. Tausende müssen hier ihr Leben gelassen haben. Von den gefallenen Deutschen keine Spur - diese Denkmale finden sich ja bei uns in jedem Dorf.
Es ist Absicht, aber keine böse Absicht, dass ich für die Städte in Polen die deutschen Ortsbezeichnungen verwende, hier aber durchgängig von Kaliningrad spreche. Das hängt einerseits damit zusammen, dass ich die polnischen Namen in der Regel nicht richtig aussprechen und mir merken kann, aber auch damit, dass in diesen Städten trotz aller Zerstörungen immer noch ein alter Ortskern vorhanden ist, der an führere Zeiten erinnert. Das ist in Kaliningrad anders. Diese Stadt wurde zerstört, die deutsche Bevölkerung vertrieben, mit Menschen aus verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion neu besiedelt und eine neue Stadt aufgebaut, die nichts mit dem ehemaligen Königsberg zu tun hat. Ich hatte nicht viel Positives über Kaliningrad gehört und habe auch nicht viel vorgefunden. Immerhin sind die Menschen mir freundlich und hilfsbereit begegnet bei meiner Suche nach dem Appartement, dass ich mir über das Internet gebucht hatte. Nicht ganz so einfach ein einer Großstadt, wenn man die kyrillischen Buchstaben nicht beherrscht, nur einzelne Vokabeln russisch aufsagen kann und wenige Menschen englisch sprechen. Die Unterkunft habe ich trotzdem nicht gefunden, dafür aber einer hilfsbereiten Damen ihren kleinen Verkaufsstand mit Erdbeeren mit dem Fahrrad umgeworfen. Schließlich bin ich in einem recht günstigen Hotel in der Innenstadt gelandet.
In dieser Stadt hält mich nicht viel und so setzte ich nach der Nacht im Hotel am Morgen meine Fahrt fort. Auf direktem Weg steuere ich die Kurische Nehrung an, um dort die Grenze zu überqueren und nach Litauen einzureisen. Und hier, kurz bevor ich die Landzunge erreiche, finde ich dann doch noch Reste deutscher Bäderarchitektur. Der kleine Ort Sztutowo ist auch bei den Russen ein beliebter Badeort und ist für hiesige Verhältnisse richtig herausgeputzt. Allerdings hat hier ein Bauboom eingesetzt, der nicht gerade begeistern kann, sondern vielmehr eine moderne Form der Plattenbauten ist...
Die Kurische Nehrung ist beidseits der Grenze fast komplett Nationalpark und UNESCO-Welterbe. Deswegen wird auch ein Eintritt von 150 Rubel erhoben - ca. 2 Euro. Und von da an fährt man auf dieser schmalen Landzugen, die die Ostsee von dem Kurischen Haff trennt. Man merkt aber eigentlich nichts davon, dass links und rechts Wasser ist. Man fährt durchgängig durch Wald, Moore und Sanddünen bis an die Grenze. Ab und zu wird auf einige "Sehenswürdigkeiten" hingewiesen - das war's dann aber auch schon.
Kurz vor der Grenze bei Nida (Litauen) treffe ich auf eine vierköpfige Familie aus Dresden, die zwei Monate mit dem Rad im Baltikum unterwegs sein will - die beiden kleinsten Familienmitglieder im Fahrradanhänger. Bis zur Grenze fahren wir zusammen und höflich wie ich bin, lasse ich sie vor. Wir sind so ziemlich die einzigen, die die Grenze passieren wollen. Kaum zu glauben, wie aufwändig es ist, eine Familie mit Kindern zu kontrollieren. Der Stoffteddy muss zweimal aus der Packtasche hervorgekramt werden und die Kontrollbeamtin kommt auch zweimal aus ihrer Kabine, um sich zu überzeugen, dass es sich wirklich um die Kinder handelt, deren Pässe sie in Händen hält. Und bei mir? Kurzer Blick in den Pass, Frage nach dem Iran-Visum, keine Gepäckkontrolle, Stempel, durch...
Inzwischen ist es für mich zu spät geworden, um nach Klaipeda weiterzufahren. Ich quartiere mich auf einem komfortablen Campingplatz direkt an den Dünen von Nida ein. Welch ein Unterschied! Nicht nur zu Russland, sondern auch zu Polen. Alles ist hier sehr gepflegt und richtig schick zurecht gemacht. Die Geschäfte sind gut sortiert, das Personal in den Supermärkten und Restaurants super freundlich und überall wird ein gutes Englisch gesprochen - irgendwie bin ich hier in einer anderen Welt angekommen. Den Abend verbringe ich in den Dünen, beim Einkaufen und mit Essen.
Der erste Eindruck, den ich von Litauen bekam sollte sich bei meiner, zugegebenermaße sehr kurzen Stippvisite, nicht ändern. Von Nida bis zur Grenze nach Lettland fahre ich aus separat geführten, hervorragend ausgebauten und beschilderten Radwegen. Besser war es nirgends auf meiner bisherigen Tour. Die Kurische Nehrung bietet auch hier ein ähnliches Bild wie auf der russischen Seite und so fahre ich bis an deren Ende bei Klaipeda und setzte dort mit der kostenlosen Fähre ins ehemalige Memel über. Die Stadt bietet nicht viel Sehenswertes und so fahre ich durch sehr schöne und ebenfalls sehr gepflegte Badeorte bis nahe an die Grenze von Lettland. Um nicht auch den Aufenthalt im vierten Land der Reise zum One-Night-Stand werden zu lassen, quartiere ich mich hier noch einmal auf einem Campingplatz ein, nicht ahnend, dass in dem Ort irgendein sehr lautes Fest gefeiert wird, das direkt nebenan in einem Haus bis morgens um acht Uhr lautstark verlängert wird.
Lettland - neues Land, neue Eindrücke. Und diese sind wiederum ganz anders als in Litauen - nur leider nicht besser. Keine Radwege, keine ausgeschilderte Radwegeführung. Die Menschen wirken irgendwie verschlossen und in machen Ortschaften empfinde eine eigenartige Grundstimmung. Viele alte Holzhäuser sind heruntergekommen, werden aber immer noch bewohnt und die Plattenbauen aus der Sowjetzeit tragen auch nicht dazu bei, Orte zu verschönern. Kurz hinter der Grenze entschließe ich mich, die Hauptstraße zu verlassen und auf Nebenstraßen nahe der Küste Richtung Norden weiterzufahren. Meine Karte weist dort zwar keine durchgehende Straße aus, aber Google-Maps weiß es besser. Kaum von der Hauptstraße abgebogen, lande ich auf einer staubigen Schotterpiste mit üblem Waschbrettprofil. Naja, so etwas bin ich ja schon oft gefahren, also warum anstellen - weiter 12 km bis zur nächsten Ortschaft. Dort endet dieser gute Weg und ich lande im Wald. Weicher Sand ist hier die Alternative. Macht nichts einfach weiter, bloß nicht die gesamte Strecke zurück - außerdem weiß Google ja wo ich bin und zeigt mir, dass es einen Weg gibt. Das ist allerdings mit der Realität verglichen kaum glaubhaft. Sumpf, zugewachsene Strecken, tiefe Spuren im Schlamm von schweren Forstmaschinen - und dazu buchstäblich hunderte von Fliegen und Bremsen, die sich auch durch Authan nicht beeindrucken lassen. Schlimmer geht's nimmer. Aber Google behält recht und ich komme durch. Allerdings hat dieser Weg Stunden und viel Kraft und einiges an Blut für die kleinen Plagegeister gekostet. Eines ist von jetzt an klar: Es werden hier die asphaltierten Straßen gefahren.
Die letzten beiden Tage bin ich fast nur durch Waldgebiete entlang der Küste gefahren. Campingplätze gibt es reichlich, die Qualität eher unterer Standard, dafür aber z. T. unangemessene Preise. Was ich bisher auf so gut wie keiner Reise erlebt habe, ist ekeliges Leitungswasser, das man kaum zum Duschen nutzen möchte. Ab jetzt werden 5-Liter-Flaschen Wasser gekauft... Der Vorteil ist, wenn man durch so dünn besiedelte Gebiete fährt, dass einem auch mal ein Wolf über den Weg läuft und für Abwechslung sorgt. Danach kam - ich glaube es zumindest, allerdings war diesmal die Entfernung zu groß, um es mit Sicherheit zu sagen - ein Elch, der die Straße kreuzte. So hat auch dieses Land viel zu bieten. Morgen komme ich in die Hauptstadt Riga und werde natürlich auch von dort meine Eindrücke schildern.
Inzwischen bin ich ein ganzes Stück weiter gekommen und morgen möchte ich die Hauptstadt von Estland, Tallin, erreichen und dort einen dringend erforderlichen Ruhetag einlegen. Den habe ich mir in Riga gespart und bin dort recht schnell wieder abgefahren. Ich sitze gerade im Terminalgebäude auf der Insel Hiiumaa (kein Tippfehler!) und warte auf die Fähre, die mich auf das Festland zurückbringen soll. Mein Glück von gestern wollte sich einfach nicht wieder einstellen, als ich nach dem Ticketkauf auf die Fähren fuhr und hinter mir die Schotten geschlossen wurden. Heute sehe ich die Fähre von hinten auf der Ostsee und muss gut 2,5 Stunden auf die letzte Gelegenheit des Tages warten, um die Insel zu verlassen.
Der erste Eindruck von Lettland will sich auch auf den zweiten Blick nicht so richtig auslöschen lassen. Zwar werden die Straßen etwas besser, ausgeschilderte und gut fahrbare Radwege bleiben aber die Ausnahme. Und auch die Orte und die Menschen wollen sich einfach nicht bei den Besuchern einschmeicheln.
Ich gebe dem Land eine weitere Chance und fahre weiter an der Küste bis zum Kap Kolka, das aber auch nicht so richtig mitzureißen versteht, um von dort Kurs auf Riga zu nehmen. Unterwegs treffe ich einen anderen Schleswig-Holsteiner auf großer Tour und gemeinsam rollen wir nach einer Zwischenübernachtung nach Riga hinein. Überraschender Weise diesmal auf einem guten Radweg abseits aller Hauptverkehrsstraßen bis ins Zentrum wo es zwei Campingplätze gibt. Wir entscheiden uns für den mit Hafen- und Altstadtpanorama, was sich wegen der lauten Arbeiten in der Nacht noch rächen soll. Kurz vor Riga muss ich das erste Mal die Regenjacke anziehen, weil dunkle Wolken aufziehen und ein paar Tropfen fallen - aber kaum ist die Jacke an, hört es auch schon wieder auf zu regnen, bis das Zelt in Riga steht und ein kurzer Schauer herunterkommt.
Im Hafen liegen bei unserer Ankunft zwei Kreuzfahrtschiffe - ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich um eine Stadt handelt, die vieles zu bieten hat. Den Nachmittag nach unserer Ankunft habe ich
genutzt, die Altstadt zu Fuß zu erkunden, am nächsten Morgen habe ich meine Sachen gepackt und bin noch ein paar Stunden durch die Stadt zu fahren, um mich dann in
Richtung Estland zu verabschieden. Hier aber erst einmal einige Eindrücke aus der lettischen Hauptstadt:
Wie schon gesagt, nach zwei halben Tagen verlasse ich Riga und mache mich auf den Weg weiter Richtung Norden. Allerdings muss man dazu lange Strecken auf stark befahrenen Hauptstraßen zurücklegen und sich die kilometerlangen Baustellen mit Lkw, Bussen und Pkw teilen. Aber kurz vor der Grenze komme ich auf eine Nebenstaße und kann fast unter Ausschluss anderen Verkehrs die fünfte Grenze meiner Reise queren
Wieder ein neues Land, wieder ein erster Eindruck. Und wieder einmal ist er anders als vorher. Die Ortschaften wirken überall entlang der Küste sehr gepflegt und die Menschen sind freundlich. Die Blicke werden nicht abgewendet, sondern es wird gelächelt, gegrüßt und überall kommt man mit Englisch sehr gut durch. Und auch hier hat sich er erste Eindruck bisher nicht geändert. Ein sehr angenehmes Reisen hier in Estland. Ich habe mal die Tage überschlagen, die ich gebrauche, bis ich nach Russland komme und entschließe mich wegen eines ganz guten Zeitpolsters, nicht auf dem kürzesten Weg nach Tallin zu fahren, sondern einen Abstecher über die beiden größten Inseln des Landes, Saaremaa und Hiiumaa zu machen - und über Muhu kommt man dabei auch noch. Muhu und Saaremaa sind eigentlich nur Durchgangsstationen, weil die Fährverbindungen ganz günstig liegen, um dann Hiiumaa zu umrunden.
Am Fährhafen auf Saaremaa findet ein Symphoniekonzert des Talliner Staatsorchesters statt - alle in estnischer Tracht. Ein sehr schöner Anblick. Im Ankunftshafen auf Hiiumaa läuft gerade ein großes Jazz-Festival. Mir zu spät und die vielen Menschen ein guter Grund, hier nicht auf dem Campingplatz zu bleiben. Obwohl es schon recht spät ist, fahre ich 10km weiter zum nächsten Platz - ohne Erfolg. Der ist einer ganzen Gruppe zugesagt, unter Ausschluss fremder Gäste. Deswegen abends um 10 noch einmal weiter, um auf einer Gemeidefläche in Nurste - ohne jede Infrastruktur - zu übernachten. Geht auch, zumal mir hier versichert wird, dass die Insel absolut sicher ist.
Heute dann nach Frühnebel Aufbruch zu meinem eigentlichen Ziel dieses Umwegs: dem Leuchtturm von Köpu - es soll der drittälteste noch in Betrieb befindliche Leuchtturm der Welt sein - ein guter Grund einen Tag und 100km extra zu investieren
Noch ein paar riesige Findlinge, Kirchen, Herrenhäuser... Ansonsten unterscheiden sich die Inseln nicht so sehr vom Festland: flach, sehr viel Wald, brutale Forstwirtschaft, Moore und selten Aussicht auf die Ostsee. Und eines ist sicher: wo diese Schilder stehen, sieht man sie garantiert nicht...
Morgen möchte ich Tallinn erreichen und dort zwei Nächte verbringen, sodass die Beine nach inzwischen 2500 km einmal zur Ruhe kommen - naja in der Stadt werde ich ja wohl wieder viel herumlaufen. Ergebnisse und Eindrücke liefere ich wie gewohnt nach. Und wie ihr seht, ziehe ich das Wolkenloch nach wie vor mit mir um die Ostsee.
Tallinn habe ich wie geplant erreicht und weil es hier, anders als in Riga, keinen zentrumsnahen Camingplatz gibt, habe ich mir ein Zimmer in einem Hostel mitten im Stadtzentrum genommen. 70 Euro für zwei Nächte ohne eigenes Bad und natürlich ohne Frühstück - man merkt schon an den Preisen, dass es hier anders ist als in den anderen Städten, die ich vorher besucht hatte - einschließlich Danzig und Riga. Im Hafen liegen immer mindestens zwei Kreuzfahrer und dazu die Fähren, die Tallinn mit anderen Metropolen im Ostseeraum verbinden.
Ja, Tallin hat eine tolle mittelalterliche Altstadt und sieht wiederum ganz anders aus als die beiden zuvorgenannten Touristenmagneten. Allein die in großen Teilen mit vielen Wachtürmen erhaltene Stadtmauer sucht ihres Gleichen. Allerdings erscheint einem hier in der Stadt vieles zu schön, zu perfekt, zu touristisch. Man wird einfach das Gefühl nicht los, in einem sehr gut gemachten Vergnügungspark á la Disneyworld zu sein. Mittelalterlich verkleidetes Animier- und Bedienungspersonal in zahllosen Lokalen, die neben den üblichen Spezialitäten aus aller Welt natürlich auch Mittelalterliches anbieten und auch so servieren. Fahrradrikschas für die, die zu bequem zum Gehen sind und die schon fast übliche Bimmelbahn, die durch die Gassen tuckert...
Dazu natürlich die Menschen aus allen Ecken der Welt. Spätens, wenn man buddhistischen Mönchen in einer japanischen Reisegruppe begegnet, weiß man, dass dieses Reiseziel kein Geheimtipp mehr ist.
Genug gelästert. Schließlich verhalte ich mich ja auch nicht anders, sondern klappere auch alle Sehenswürdigkeiten mit der Kamera in der Hand ab und lausche gespannt (manchmal auch gelangweilt), was einem der Audio-Guide aus der Touristinfo so Wissenswertes und Kurioses zu verraten hat. Eben nur nicht einem Herdentrieb folgend, einem Menschen mit Fähnchen, Schirmchen oder anderen Auffälligkeiten hinterherzulaufen.
Apropos Touristinfo. Mir war da unterwegs ein kleines Malheur passiert. Beim Aufpumpen meiner Isomatte ist mit einem Knall ein Steg zwischen den Längsrippen aufgeplatzt - eine dicke längliche Wulst macht es unmöglich, bequem auf dieser Matte zu liegen. Entweder ist der Druck zu groß und man liegt auf dieser dicken Wurst, oder der Druck ist zu niedrig und man liegt auf der Erde. Ich möchte jetzt keine Bemerkungen zu meinem Gewicht hören - es ist beim Aufpumpen passiert, nicht beim Drauflegen.
Nützt nichts, eine neue Matte muss her und wenn nicht hier in Tallinn, wo dann sonst. Also dem hilfsbereiten Menschen in der Touristinfo mein Problem erklärt mit der anschließenden Frage, wo es denn ein Geschäft mit Outdoor-Equipment oder Campingbedarf gibt. Da die Unterhaltung auf Englisch geführt wurde, habe ich den üblichen Begriff der "mattress" verwendet. Seiner Sache sicher empfahl er mir ein riesiges Einkaufszentrum am Rand der Innenstadt. Auf einem Stadtplan markierte er den Ort, wobei ich dem, was er drauf schrieb noch keine Beachtung schenkte. Dort wollte ich erst gegen Abend hin und dann ist ja Zeit genug, sich mit dem Plan zu beschäftigen. Dort stand in Großbuchstaben "JYSK". Ich ahnte was kommt, denn JYSK ist außerhalb des deutschen Sprachraums die Bezeichnung für die Ladenkette "Dänisches Bettenlager" - klar ich wollte ja eine Matratze kaufen. Und es kam wie es kommen musste: von der Fassade des gigantischen Einkaufszentrums grinsten mich hämisch die Gänse vom Logo des Dänischen Bettenlagers an. Ich stelle mir vor, eine 200x90cm große Federkernmatratze auf dem Fahrrad...
Glücklicherweise gab es in der Mall auch drei Sportgeschäfte und in einem war ich erfolgreich und bin jetzt stolzer Besitzer einer neuen, zu schmalen, zu dünnen, aber für einen Temperaturbereich von -15 - +55° geeigneten Isomatte. Der Hersteller meiner alten Matte, von der ich mich in Tallinn verabschiedet habe, hat wahrscheinlich ein Einsehen und schickt mir auf Kulanz eine neue Matte nach Hause - schön, aber die nächsten sechs Wochen werden hart...
Ein Tag in der Stadt soll mir reichen, auch wenn es für eine echte Erholung zu wenig war. Das stelle ich fest, als ich wieder auf dem Rad sitze und die Beine doch noch recht schwer sind. Auf dem Weg aus der Stadt mache ich noch einen Abstecher bein Schloss Kadriorgin Pasasti und bei der Ruine des Birgittenklosters, die auf meinem Weg liegen.
Und als sollte meine lästerlichen Gedanken sofort bestraft werden, fängt es direkt an dem Wasserfall das erste Mal auf der Tour an zu regnen, sodass ich nach und nach das komplette Regenzeug anziehen muss.
Die nächsten vier Stunden fahre ich im strömenden Regen, werde dabei aber von einem kräftigen Westwind geschoben, sodass der Regen fast zur Nebensache wird. Ich bleibe aber dabei: Lieber Gegenwind und Sonne als Rückenwind und Regen. Selbst das beste Regenzeug kann nicht verhindern, dass man von innen nass wird - vom Schweiß, und irgendwann wird es dann auch kalt. Also lege ich in einer sehr gemütlichen, aber fensterlosen Raststätte an der Hauptstraße, die hier wie eine Autobahn ausgebaut ist, auf der man aber auch mir dem Rad fahren darf, eine Pause für einen Kaffee mit etwas Süßem ein, um mich aufzuwärmen. Irgendwann muss man ja wieder auf das Rad. Noch ein kurzer Blick auf die Wetter-App: Ab 16.00 Uhr Sonnenschein und weiter kräftiger Westwind. Es ist 16.00 Uhr und als ich nach draußen komme, schiebt der Wind gerade die Wolken weg und der bekannte, strahlend blaue Himmel kommt wieder zum Vorschein. Regenzeug aus, in der Sonne durchwärmen und noch mal 70km hinter mich bringen - am Ende des Tages stehen 167km auf dem Tageszähler und trotzdem komme ich entspannt auf einem sehr schönen Campingplatz auf einer Steilküste an.
Heute bin ich dann die letzten Kilometer bis nach Narva gefahren. Hier bildet der gleichnamige Fluss die Grenze zu Russland. Kein Grenzübergang wie jeder andere. Hier stoßen offenkundig Welten aufeinander. Es ist auch nicht so entspannt, wie ich die Kontrolle in Kaliningrad erlebt habe. Wer mit dem Auto kommt, sollte sich vorher per Telefon oder Internet anmelden und idealer Weise auch eine Kontrollzeit buchen. Außerdem bucht man einen kostenpflichtigen Parkplatz im Wartebereich vor der Grenze. Bei einem kleinen Spaziergang durch die Stadt habe ich mir Kontrollstelle schon einmal angesehen: Meterhohe Metallzäune, elektrische Tore, durch die die Fahrzeuge einzeln zur Kontrolle vorgelassen werden, überall Videokameras und viele Verbotschilder. Nach telefonischer Auskunft benötige ich mit dem Fahrrad keine Anmeldung oder Reservierung. Mal sehen, ob das klappt. Auf jeden Fall werde ich sehr früh am Grenzübergang sein, um dem Hauptverkehrsstrom auszuweichen. Deswegen und weil es hier im Ort keinen Campingplatz gibt, habe ich mir ein Appartement für 18 Euro die Nacht gebucht - Plattenbau. Abschreckend das Umfeld, das Treppenhaus und die Flure, umso überraschender das gepflegte und komfortable Appartement. Keine zwei Kilometer zur Grenze - mal sehen wie viele Stunden ich gebrauche, bis ich in Russland bin, wo ich so schnell wie möglich nach St. Petersburg fahren will, allerdings wohl nicht auf dem geraden Weg, sondern auf Nebenstraßen an der Küste. Ich werde wie immer berichten.