Spätestens seit meinem gescheiterten Versuch vor drei Jahren, in die USA einzureisen, habe ich bei den Grenzkontrollen dieses Landes ein ungutes Gefühl und irgendwie ist die Situation in der Zwischenzeit nicht unbedingt besser geworden. So rolle ich, gespannt, was mich erwartet, am Peace Arch bei Blaine auf den US-amerikanischen Grenzkontrollpunkt zu, wo sich der Autoverkehr mehrspurig staut. Radfahrer und Fußgänger werden separat im Gebäude abgefertigt. Dort steht eine lange Schlange, die nur sehr schleppend vorankommt, vor den wenigen besetzten Schalter. Hier kommt mir erneut mein Visum zugute und ich werde in eine andere Schlange eingereiht, in der nur fünf andere Fußgänger vor mir stehen. Die wichtigste Frage ist, ob ich über genug Geld verfüge, um meinen Aufenthalt in den USA zu finanzieren, und ob ich es bis Anfang Dezember – dann läuft das halbe Jahr ab, für das mein Touristenvisum gültig ist – bis an die mexikanische Grenze schaffe. Das war’s und ohne weiteren Stempel im Ausweis verlasse ich das Gebäude. Dort muss ich allerdings feststellen, dass alle Fahrradtaschen geöffnet waren und offenbar in meiner Abwesenheit kontrolliert wurden. Ich habe keine Ahnung, wonach da gesucht wurde!
Der zweite Grenzübertritt und damit zurück in den Vereinigten Staaten von Amerika
Blaine wirkt an diesem Sonntagnachmittag ziemlich ausgestorben und die meisten Geschäfte haben geschlossen. Wohl auch eine Folge der aktuellen Politik der Vereinigten Staaten, da es zurzeit viele Kanadier ablehnen, in die USA zu reisen.
In Washington State angekommen muss ich mich entscheiden: Großstadt oder Natur – Seattle oder Olympic National Park. Um beides zu sehen, müsste ich einige hundert Kilometer Umweg fahren. Schließlich entscheide ich mich gegen die Konzernzentrale von Amazon, den ersten Starbucks-Laden, die Werksführung und das Museum von Boing und vieles anderes mehr und Entscheide mich für einen der artenreichsten und abwechslungsreichsten Nationalparks der USA. Also bleibe ich an der Küste und lande nach kurzer Fahrt auf dem State Park Campground von Birch Bay und erlebe ich meine erste positive Überraschung im Nordwesten der USA. Die State Parks sind das Pendent zu den Provincial Parks in Kanada. Überall, wo es etwas Interessantes gibt, ist ein State Park eingerichtet, und seien es nur lange Sandstrände. Und viele dieser State Parks verfügen auch über riesige Campingplätze, die jetzt in der Hauptsaison allerdings in der Regel komplett lange im Voraus ausgebucht sind. Allerdings habe alle State Parks einen Hiker-Biker-Bereich, wo man ohne Reservierung für 12 Dollar unterkommt, eine heiße Dusche inclusive. Es sind kleine Plätze, oft tief im Wald versteckt, aber immer mit Picknicktisch und immer mit Feuerstelle – allerdings herrscht hier überall wegen der Waldbrandgefahr absolutes Feuerverbot.
Erste Eindrücke aus Washington State nach Grenzübertritt auf dem Weg in den Olympic National Park
Im weiten Bogen geht es für mich auf die Olympic Halbinsel und in Port Angeles, gegenüber von Victoria auf Vancouver Island, erreiche ich den Nationalpark. Hier kaufe ich eine Jahrespass für alle Nationalparks der USA und informiere mich, was im Park für mich infrage kommt. Lange Wanderungen schließe ich aus, dafür bin ich nicht ausgestattet. Eine Fahrt in die Berge erspare ich mir, Berge mit Schnee und Eis habe und werde ich noch genug auf dieser Reise sehen. Also bleibt die Küste, die zu den attraktivsten der USA zählen sollen. Auch hier gibt es ein großes Aber, denn viele Küstenabschnitte, wo man gegen Gebühr auch zelten kann, sind nur durch Wanderungen am Strand zugänglich und damit für mich außer Reichweite. Es bleibt also die Fahrt durch den Park und einige Stippvisiten an der Küste. Beides ist allerdings „outstanding“. Überwiegend fahre ich auf dem Olympic Discovery Trail, einem hervorragend ausgebauten und ausgeschilderten Radweg auf einer alten Bahntrasse, meistens weit entfernt von anderen Straßen durch wunderschöne Natur. Bei Fairholme am Lake Crescent erreiche ich bei Nieselregen und am frühen Abend einen weiteren State Park Campground. „Fully booked“! Rezeption geschlossen! Kein Hiker-Biker-Bereich erkennbar! Während ich noch auf der Suche nach einem Verantwortlichen bin, kommt ein Mann auf mich zu und bietet mir seinen Stellplatz an, den er für diese Nacht gebucht und bezahlt hat, den er aber nicht benötigt, da er auf dem Platz seiner Tochter übernachtet. Wieder einmal Glück gehabt! Und auch wenn das Wetter nicht so richtig mitgespielt hat, ist die Fahrt entlang des Seeufers mit seinem glasklaren, türkisfarbenen Wasser ein Genuss.
Der Olympic Discovery Trail - zählt absolut zu den bestens Radwegen auf dieser Tour - und streng geschützt.
Andere Radwege sind nicht immer so gut in Schuss
Mein nächstes Ziel auf dem Weg durch den Park sind die (erreichbaren) Strände an der Westküste der Halbinsel. Hier lande ich auf einem der schrägsten Campingplätze der bisherigen Tour. Es ist das Refugium von Bob. Bob ist ein Althippie und hat sich das Waldgrundstück vor 35 Jahren gekauft und nach und nach seinen Vorstellungen entsprechend ausgebaut. Und weil er sich selbst einmal über die z. T. unverschämt hohen Preise für kleine Stellplätze aus regulären Campingplätzen geärgert hat, setzte er die Idee eines Freundes um und bietet sein Grundstück heute nur Zweiradfahrern – mit oder ohne Motor – zum Übernachten an. Kostenlos. Und wenn es einem gefallen, wird man gebeten, beim Verlassen eine freiwillige Spende zu geben. Alles ist sauber und aufgeräumt, alles ein bisschen speziell und scheinbar sind hier alle dauerbekifft.
Zwei Tage bin hiergeblieben, um auf kurzem Weg an unterschiedliche Küstenabschnitte zu fahren. Einfach traumhaft ist Rialto Beach mit seinen unbeschreiblichen Treibholzmasse, wie ich es in dieser Größe noch nie gesehen habe, dazu ein spektakulärer Sonnenuntergang über dem Pazifik und auf der anderen Seite der aufgehende Vollmond.
Auf meinem Weg nach Süden folge ich wieder einmal der Empfehlung meines Navis abseits der Hauptstraße auf einer Schotterpiste. Das Navi ignoriere ich danach, weil die Strecke eigentlich eindeutig ist und verpasse dadurch eine Abzweigung auf eine üble, steile Nebenstrecke. Ziemlich frustriert erkenne ich nach etlichen Höhenmetern meinen Irrtum und trete den Rückweg an. Hier kommt mir Jim gerade recht, als er anhält und mir anbietet, mich über diesen Berg zu bringen. Er ist eigentlich hier, um Wapitihirsche zu beobachten. Mein Fahrrad landet in seinem Kombi und mit zahlreichen Geschichten über Tierbeobachtungen, Jagd und Fischerei komme ich sehr komfortabel wieder auf den US-Highway 101. Obwohl die ganze Küste sehr touristisch ist, gibt es auf diesem Abschnitt nicht viele Möglichkeiten, sich mit Lebensmitteln zu versorgen oder Essen zu gehen. Deswegen ist ein Restaurant in Kalaloch meine Wahl. Noch mit dem Elk-Burger beschäftigt, kommt John herein, ein Radreisender aus Kalifornien, den ich einige Tage vorher auch beim Essen getroffen hatte. John ist Arzt im Ruhestand, mit knapp 70 Jahren noch immer passionierter Surfer und lebt direkt an der Küste mit Blick über den Pazifik zwischen San Franzisco und Los Angeles. Gespräche über Gott und die Welt und die amerikanische Politik (hier an der Westküste nicht ganz so gefährlich) dauern so lange, dass er schließlich seinen Hiker-Biker-Platz mit mir teilt und wir uns erst am nächsten Morgen nach dem Frühstück verabschieden, mit dem Angebot im Gepäck, bei ihm zu übernachten, wenn ich an seinem Haus vorbeikomme.
Manchmal hat der Morgennebel auch seinen ganz besonderen Reiz
Hilfsbereitschaft ist ansteckend. Mehrfach haben mir Menschen ohne Zögern geholfen und dann kommt es einem gerade recht, wenn man einmal etwas zurückgeben kann. Auf freier Strecke fast direkt am Straßenrand sitzen Shane und seine drei halbwüchsigen Kinder bei einer Pause auf ihrer Radtour. Nach dem üblichen Woher und Wohin, auch die übliche Frage, ob alles in Ordnung ist. Es ist aber nicht alles in Ordnung. An Shane’s Hinterrad sind zwei Speichen gerissen. Damit kann man nicht lange fahren und nach kurzer Überlegung biete ich zwei meiner Ersatzspeichen (die ich bei diesem Rad sein 50.000km noch nie benötigt habe) an. Shane ist gut ausgerüstet und technisch versiert und schnell sind die beiden Speichen um 2mm gekürzt eingesetzt und die Fahrt kann weitergehen. An der nächsten Raststätte treffe ich die Familie wieder und Shane lässt es sich trotz meines Widerstandes nicht nehmen, meine Rechnung mit den Worten zu bezahlen, dass es die billigste Fahrradreparatur war, die er je gehabt hat.
Nach einer letzten Übernachtung an einem der vielen langen Sandstrände bei Cape Disapointment verlasse ich Washington State. Der Weg führt über die Astria-Megler-Bridge, die mit knapp sieben Kilometern Länge den Fluss quert. Nicht ganz ohne Bauchgrummeln fahre ich auf die Brücke zu, von der ich gehört hatte, dass die Straße ein Metallgitter ist, kaum Seitenstreifen vorhanden sind und Seitenwind für Radfahrer gefährlich werden. Tatsächlich ist der Straßenbelag aus Beton, die Seitenstreifen und schmal aber noch okay und der Wind schräg von hinten hat geholfen. Ich bin aber der Überzeugung, dass die Brücke von den Fischern mitinitiiert und -finanziert wurde, um Kormorane umzubringen. Noch nie habe ich so viele dieser Vögel überfahren auf einer Straße gesehen.
Wenn man einen Reiseführer über Oregon aufschlägt, dann ist es die Küste, die dort angepriesen wird. Also folge ich weiter dem US-Highway 101, der immer in Küstennähe verläuft. Diese ist dann tatsächlich auch sehr schön und abwechslungsreich: lange Sandstrände, Dünen, Felsen, Klippen vorgelagerte Inseln… Aber: Schöne Küste = viel Tourismus = viel Verkehr. Das Wetter spielt die ersten Tage noch ganz gut mit, zumindest bis in die frühen Nachmittagsstunden ist es sonnig. Dann zog in den letzten Tagen dichter Seenebel auf und von den spektakulärsten Aussichtspunkten war nichts als eine weiße Wand zu sehen.
Schöne Aussichten - bis der Seenebel die Berge hinaufkriecht und einem die Sicht an den spektakuklärsten Klippen nimmt
In Washington State war ich ja schon von den State-Park-Campgrounds begeistert, was ich hier erlebe, habe ich so noch nie gesehen. Auf dem Campingplatz von Manzanita ist ein riesiger Bereich für Hiker und Biker reserviert, lichter Wald, weite Abstände zwischen den Zelten, für die extra Plattformen angelegt sind. Und mittendrin einemFahrrad-Reparaturstation, mit Luftpumpe, Werkzeug und einer Halterung zum Aufhängen der Räder bei der Reparatur. Und daneben Schließfächer – nicht für Lebensmittel, sondern für Wertsachen, einschließlich USB-Anschlüssen zum Aufladen von Geräten! Und alles für 10,- Dollar pro Nacht, heiße Duschen und saubere Toiletten selbstverständlich inbegriffen. In Kanada habe ich 20,- Dollar in Provincial Parks bezahlt, wo es außer einem Plumpsklo und einem Campingtisch nichts gab, nicht einmal Trinkwasser.
Hier sind Wanderer und Radler wirklich herzlich willkommen und bestens versorgt
Nach dem Seenebel kommt der Regen. In den letzten Tagen wurde es immer grauer und für heute versprach die Wetterprognose Regen – und sie hat ihr Versprechen gehalten. Gestern hatte ich gerade Lincoln Beach verlassen und wollte noch ca. 25 km bis zum nächsten State-Park-Campingplatz fahren, obwohl es schon recht spät war, als vor mir ein Van anhielt. Die Fahrerin, Tricia, fragte, ob ich auf Warmshowers wäre, was ich bejahte (obwohl ich diese Plattform sie gut wie nie nutze) und sie bot mir wegen der schlechten Wetterprognose an, ihn ihrem Haus zu übernachten, was ich gern annahm. Als ich nach sechs Kilometern bei der angegebenen Adresse ankam, war die erste Reaktion: „WOW!“ Ein Haus in den Dünen mit direktem Blick von der Terrasse und vom Wohnzimmer auf den Ozean – nur die Grauwale haben sich noch nicht blicken lassen, allerdings ist die Sicht bei Regen auch nicht ganz so gut. Aber irgendwas ist ja immer 😊