Spätestens seit meinem gescheiterten Versuch vor drei Jahren, in die USA einzureisen, habe ich bei den Grenzkontrollen dieses Landes ein ungutes Gefühl und irgendwie ist die Situation in der Zwischenzeit nicht unbedingt besser geworden. So rolle ich, gespannt, was mich erwartet, am Peace Arch bei Blaine auf den US-amerikanischen Grenzkontrollpunkt zu, wo sich der Autoverkehr mehrspurig staut. Radfahrer und Fußgänger werden separat im Gebäude abgefertigt. Dort steht eine lange Schlange, die nur sehr schleppend vorankommt, vor den wenigen besetzten Schalter. Hier kommt mir erneut mein Visum zugute und ich werde in eine andere Schlange eingereiht, in der nur fünf andere Fußgänger vor mir stehen. Die wichtigste Frage ist, ob ich über genug Geld verfüge, um meinen Aufenthalt in den USA zu finanzieren, und ob ich es bis Anfang Dezember – dann läuft das halbe Jahr ab, für das mein Touristenvisum gültig ist – bis an die mexikanische Grenze schaffe. Das war’s und ohne weiteren Stempel im Ausweis verlasse ich das Gebäude. Dort muss ich allerdings feststellen, dass alle Fahrradtaschen geöffnet waren und offenbar in meiner Abwesenheit kontrolliert wurden. Ich habe keine Ahnung, wonach da gesucht wurde!
Der zweite Grenzübertritt und damit zurück in den Vereinigten Staaten von Amerika
Blaine wirkt an diesem Sonntagnachmittag ziemlich ausgestorben und die meisten Geschäfte haben geschlossen. Wohl auch eine Folge der aktuellen Politik der Vereinigten Staaten, da es zurzeit viele Kanadier ablehnen, in die USA zu reisen.
In Washington State angekommen muss ich mich entscheiden: Großstadt oder Natur – Seattle oder Olympic National Park. Um beides zu sehen, müsste ich einige hundert Kilometer Umweg fahren. Schließlich entscheide ich mich gegen die Konzernzentrale von Amazon, den ersten Starbucks-Laden, die Werksführung und das Museum von Boing und vieles anderes mehr und Entscheide mich für einen der artenreichsten und abwechslungsreichsten Nationalparks der USA. Also bleibe ich an der Küste und lande nach kurzer Fahrt auf dem State Park Campground von Birch Bay und erlebe ich meine erste positive Überraschung im Nordwesten der USA. Die State Parks sind das Pendent zu den Provincial Parks in Kanada. Überall, wo es etwas Interessantes gibt, ist ein State Park eingerichtet, und seien es nur lange Sandstrände. Und viele dieser State Parks verfügen auch über riesige Campingplätze, die jetzt in der Hauptsaison allerdings in der Regel komplett lange im Voraus ausgebucht sind. Allerdings habe alle State Parks einen Hiker-Biker-Bereich, wo man ohne Reservierung für 12 Dollar unterkommt, eine heiße Dusche inclusive. Es sind kleine Plätze, oft tief im Wald versteckt, aber immer mit Picknicktisch und immer mit Feuerstelle – allerdings herrscht hier überall wegen der Waldbrandgefahr absolutes Feuerverbot.
Erste Eindrücke aus Washington State nach Grenzübertritt auf dem Weg in den Olympic National Park
Im weiten Bogen geht es für mich auf die Olympic Halbinsel und in Port Angeles, gegenüber von Victoria auf Vancouver Island, erreiche ich den Nationalpark. Hier kaufe ich eine Jahrespass für alle Nationalparks der USA und informiere mich, was im Park für mich infrage kommt. Lange Wanderungen schließe ich aus, dafür bin ich nicht ausgestattet. Eine Fahrt in die Berge erspare ich mir, Berge mit Schnee und Eis habe und werde ich noch genug auf dieser Reise sehen. Also bleibt die Küste, die zu den attraktivsten der USA zählen sollen. Auch hier gibt es ein großes Aber, denn viele Küstenabschnitte, wo man gegen Gebühr auch zelten kann, sind nur durch Wanderungen am Strand zugänglich und damit für mich außer Reichweite. Es bleibt also die Fahrt durch den Park und einige Stippvisiten an der Küste. Beides ist allerdings „outstanding“. Überwiegend fahre ich auf dem Olympic Discovery Trail, einem hervorragend ausgebauten und ausgeschilderten Radweg auf einer alten Bahntrasse, meistens weit entfernt von anderen Straßen durch wunderschöne Natur. Bei Fairholme am Lake Crescent erreiche ich bei Nieselregen und am frühen Abend einen weiteren State Park Campground. „Fully booked“! Rezeption geschlossen! Kein Hiker-Biker-Bereich erkennbar! Während ich noch auf der Suche nach einem Verantwortlichen bin, kommt ein Mann auf mich zu und bietet mir seinen Stellplatz an, den er für diese Nacht gebucht und bezahlt hat, den er aber nicht benötigt, da er auf dem Platz seiner Tochter übernachtet. Wieder einmal Glück gehabt! Und auch wenn das Wetter nicht so richtig mitgespielt hat, ist die Fahrt entlang des Seeufers mit seinem glasklaren, türkisfarbenen Wasser ein Genuss.
Der Olympic Discovery Trail - zählt absolut zu den bestens Radwegen auf dieser Tour - und streng geschützt.
Andere Radwege sind nicht immer so gut in Schuss
Mein nächstes Ziel auf dem Weg durch den Park sind die (erreichbaren) Strände an der Westküste der Halbinsel. Hier lande ich auf einem der schrägsten Campingplätze der bisherigen Tour. Es ist das Refugium von Bob. Bob ist ein Althippie und hat sich das Waldgrundstück vor 35 Jahren gekauft und nach und nach seinen Vorstellungen entsprechend ausgebaut. Und weil er sich selbst einmal über die z. T. unverschämt hohen Preise für kleine Stellplätze aus regulären Campingplätzen geärgert hat, setzte er die Idee eines Freundes um und bietet sein Grundstück heute nur Zweiradfahrern – mit oder ohne Motor – zum Übernachten an. Kostenlos. Und wenn es einem gefallen, wird man gebeten, beim Verlassen eine freiwillige Spende zu geben. Alles ist sauber und aufgeräumt, alles ein bisschen speziell und scheinbar sind hier alle dauerbekifft.
Zwei Tage bin hiergeblieben, um auf kurzem Weg an unterschiedliche Küstenabschnitte zu fahren. Einfach traumhaft ist Rialto Beach mit seinen unbeschreiblichen Treibholzmasse, wie ich es in dieser Größe noch nie gesehen habe, dazu ein spektakulärer Sonnenuntergang über dem Pazifik und auf der anderen Seite der aufgehende Vollmond.
Auf meinem Weg nach Süden folge ich wieder einmal der Empfehlung meines Navis abseits der Hauptstraße auf einer Schotterpiste. Das Navi ignoriere ich danach, weil die Strecke eigentlich eindeutig ist und verpasse dadurch eine Abzweigung auf eine üble, steile Nebenstrecke. Ziemlich frustriert erkenne ich nach etlichen Höhenmetern meinen Irrtum und trete den Rückweg an. Hier kommt mir Jim gerade recht, als er anhält und mir anbietet, mich über diesen Berg zu bringen. Er ist eigentlich hier, um Wapitihirsche zu beobachten. Mein Fahrrad landet in seinem Kombi und mit zahlreichen Geschichten über Tierbeobachtungen, Jagd und Fischerei komme ich sehr komfortabel wieder auf den US-Highway 101. Obwohl die ganze Küste sehr touristisch ist, gibt es auf diesem Abschnitt nicht viele Möglichkeiten, sich mit Lebensmitteln zu versorgen oder Essen zu gehen. Deswegen ist ein Restaurant in Kalaloch meine Wahl. Noch mit dem Elk-Burger beschäftigt, kommt John herein, ein Radreisender aus Kalifornien, den ich einige Tage vorher auch beim Essen getroffen hatte. John ist Arzt im Ruhestand, mit knapp 70 Jahren noch immer passionierter Surfer und lebt direkt an der Küste mit Blick über den Pazifik zwischen San Franzisco und Los Angeles. Gespräche über Gott und die Welt und die amerikanische Politik (hier an der Westküste nicht ganz so gefährlich) dauern so lange, dass er schließlich seinen Hiker-Biker-Platz mit mir teilt und wir uns erst am nächsten Morgen nach dem Frühstück verabschieden, mit dem Angebot im Gepäck, bei ihm zu übernachten, wenn ich an seinem Haus vorbeikomme.
Manchmal hat der Morgennebel auch seinen ganz besonderen Reiz
Hilfsbereitschaft ist ansteckend. Mehrfach haben mir Menschen ohne Zögern geholfen und dann kommt es einem gerade recht, wenn man einmal etwas zurückgeben kann. Auf freier Strecke fast direkt am Straßenrand sitzen Shane und seine drei halbwüchsigen Kinder bei einer Pause auf ihrer Radtour. Nach dem üblichen Woher und Wohin, auch die übliche Frage, ob alles in Ordnung ist. Es ist aber nicht alles in Ordnung. An Shane’s Hinterrad sind zwei Speichen gerissen. Damit kann man nicht lange fahren und nach kurzer Überlegung biete ich zwei meiner Ersatzspeichen (die ich bei diesem Rad sein 50.000km noch nie benötigt habe) an. Shane ist gut ausgerüstet und technisch versiert und schnell sind die beiden Speichen um 2mm gekürzt eingesetzt und die Fahrt kann weitergehen. An der nächsten Raststätte treffe ich die Familie wieder und Shane lässt es sich trotz meines Widerstandes nicht nehmen, meine Rechnung mit den Worten zu bezahlen, dass es die billigste Fahrradreparatur war, die er je gehabt hat.
Nach einer letzten Übernachtung an einem der vielen langen Sandstrände bei Cape Disapointment verlasse ich Washington State. Der Weg führt über die Astoria-Megler-Bridge, die mit knapp sieben Kilometern Länge den Columbia River quert. Nicht ganz ohne Bauchgrummeln fahre ich auf die Brücke zu, von der ich gehört hatte, dass die Straße ein Metallgitter ist, kaum Seitenstreifen vorhanden sind und Seitenwind für Radfahrer gefährlich werden. Tatsächlich ist der Straßenbelag aus Beton, die Seitenstreifen und schmal aber noch okay und der Wind schräg von hinten hat geholfen. Ich bin aber der Überzeugung, dass die Brücke von den Fischern mitinitiiert und -finanziert wurde, um Kormorane umzubringen. Noch nie habe ich so viele dieser Vögel überfahren auf einer Straße gesehen.
Wenn man einen Reiseführer über Oregon aufschlägt, dann ist es die Küste, die dort angepriesen wird. Also folge ich weiter dem US-Highway 101, der immer in Küstennähe verläuft. Diese ist dann tatsächlich auch sehr schön und abwechslungsreich: lange Sandstrände, Dünen, Felsen, Klippen vorgelagerte Inseln… Aber: Schöne Küste = viel Tourismus = viel Verkehr. Das Wetter spielt die ersten Tage noch ganz gut mit, zumindest bis in die frühen Nachmittagsstunden ist es sonnig. Dann zog in den letzten Tagen dichter Seenebel auf und von den spektakulärsten Aussichtspunkten war nichts als eine weiße Wand zu sehen.
Schöne Aussichten - bis der Seenebel die Berge hinaufkriecht und einem die Sicht an den spektakuklärsten Klippen nimmt
In Washington State war ich ja schon von den State-Park-Campgrounds begeistert, was ich hier erlebe, habe ich so noch nie gesehen. Auf dem Campingplatz von Manzanita ist ein riesiger Bereich für Hiker und Biker reserviert, lichter Wald, weite Abstände zwischen den Zelten, für die extra Plattformen angelegt sind. Und mittendrin einemFahrrad-Reparaturstation, mit Luftpumpe, Werkzeug und einer Halterung zum Aufhängen der Räder bei der Reparatur. Und daneben Schließfächer – nicht für Lebensmittel, sondern für Wertsachen, einschließlich USB-Anschlüssen zum Aufladen von Geräten! Und alles für 10,- Dollar pro Nacht, heiße Duschen und saubere Toiletten selbstverständlich inbegriffen. In Kanada habe ich 20,- Dollar in Provincial Parks bezahlt, wo es außer einem Plumpsklo und einem Campingtisch nichts gab, nicht einmal Trinkwasser.
Hier sind Wanderer und Radler wirklich herzlich willkommen und bestens versorgt
Nach dem Seenebel kommt der Regen. In den letzten Tagen wurde es immer grauer und für heute versprach die Wetterprognose Regen – und sie hat ihr Versprechen gehalten. Gestern hatte ich gerade Lincoln Beach verlassen und wollte noch ca. 25 km bis zum nächsten State-Park-Campingplatz fahren, obwohl es schon recht spät war, als vor mir ein Van anhielt. Die Fahrerin, Tricia, fragte, ob ich auf Warmshowers wäre, was ich bejahte (obwohl ich diese Plattform so gut wie nie nutze), und sie bot mir wegen der schlechten Wetterprognose an, in ihrem Haus zu übernachten, was ich gern annahm. Als ich nach sechs Kilometern bei der angegebenen Adresse ankam, war die erste Reaktion: „WOW!“ Ein Haus in den Dünen mit direktem Blick von der Terrasse und vom Wohnzimmer auf den Ozean – nur die Grauwale haben sich noch nicht blicken lassen, allerdings ist die Sicht bei Regen auch nicht ganz so gut. Aber irgendwas ist ja immer 😊
Die Auszeit in Lincoln Beach war gut und kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Nicht nur wegen des durchgehenden Nieselregens, dem ich damit entkommen bin, sondern auch, weil die Beine ganz gut mal wieder einen Tag, ohne in die Pedale zu treten, gebrauchen konnten.
Der nächste Tag ist dafür umso abwechslungsreicher. Auch wenn der Seenebel wieder einmal die Sicht auf die Küste und das Meer trübt, kann er Seehundkolonien, raue, zerklüftete Küstenabschnitte und Leuchttürme doch nicht ganz vor mir verstecken.
In Newport ergänze ich meine Vorräte und mache noch einen Abstecher in die „Altstadt“ oder das, was hier im Westen dafür hält. Nicht, dass es hier besondere architektonische oder städtebauliche Highlights zu besichtigen gäbe, aber im Fischereihafen haben sich Seelöwen breit gemacht und direkt unterhalb eines Stegs drängen sich ca. 100 Tiere auf einem Ponton und dösen in der Sonne, bis ein Neuankömmling einen Platz sucht und damit für Streit sorgt. Weil nicht alle Tiere auf der kleinen Plattform unterkommen, drängen sich weitere Seelöwen etwas abseits auf einem Steinwall. Ein faszinierendes Schauspiel aus nächster Nähe – wenn nur der Gestank nicht wäre…
Gespräche und zahlreiche Zwischenstopps verkürzen die geplante Tagesetappe deutlich, aber hier in Oregon findet sich immer ein State Park und ein Hiker-Biker-Platz ist auch problemlos zu bekommen. Auch der nächste Tag steht ganz im Zeichen von Leuchttürmen und einer weiteren Seelöwenkolonie. Diesmal befindet sie sich aber in der (angeblich) größten Meereshöhle Nordamerikas und liegt auf einem Privatgelände, was bedeutet, dass man tief in die Tasche greifen muss, um sie zu besichtigen. Dafür wird man dann aber auch mit einem Aufzug in die Höhle gebracht. Man kommt den Tieren bei weitem nicht so nahe wie in Newport, dafür ist der Gestank umso intensiver und die zahlreichen Fliegen machen den Aufenthalt auch nicht gerade angenehmer.
Die Küste ändert sich wieder einmal. Das Meer bekomme ich fast nicht mehr zu sehen, weil über eine Strecke von mindestens hundert Kilometer die mächtigen Oregon Sand Dunes die Sicht versperren. Eine riesige Sandkiste. Und was machen die Amerikaner? Sie holen ihre Spielzeuge (Quads – hier ATV genannt) raus und amüsieren sich damit im Sand. Nicht mein Fall. Einerseits gibt es hier strenge Naturschutzregeln, andererseits wird wilde Sau gespielt. Ich suche mir am nächsten Tag einen Bereich aus, wo man nur zu Fuß hineindarf, und mache mir dort ein Bild (oder auch ein paar mehr) von dieser bizarren Landschaft.
Neben den Leuchttürmen gibt es entlang des Highway 101 zahlreiche faszinierende Brückenbauwerke, mit denen Flüsse über tiefe Buchten überwunden werden. Überwiegend stammen sie noch aus der Zeit, als die Küstenstraße entstanden ist und wirken auch deswegen so gänzlich anders, als modere Brücken. Das Überqueren der meist engen Brücken ist nicht immer vergnügungssteuerpflichtig, wenn einen Autofahrer sehr eng überholen und man von einigen im Vorbeifahren auch noch beschimpft wird.
Die letzte Nacht in Oregon verbringe ich auf einem Campingplatz am Turtle Rock in Gold Beach. Der Grenzübertritt nach Kalifornien ist unspektakulär. Ein bisschen mehr als eine schlichte Begrüßungstafel am Straßenrand hätte ich vom „Golden State“ schon erwartet.
Dafür ist der Campingplatz im Jedediah Smith Redwoods State Park umso beeindruckender. Die meisten National- und State Parks hier im Norden Kaliforniens sind dem Schutz der alten Coastal Redwoods gewidmet. Es sind die höchsten Bäume der Welt, die mehr als 110m Höhe erreichen und über 2000 Jahr alt werden können. Noch rechtzeitig bevor auch die letzten 5% des ursprünglichen Bestandes der Axt bzw. der Säge zum Opfer gefallen sind, wurden sie unter strengen Schutz gestellt – und ich stelle mein Zelt mitten in diesem Wald zwischen den Riesen auf. Ganz allein, weit und breit kein anderer Camper. Da fühlt man sich ganz schön klein und wird sehr ehrfürchtig gegenüber dieser Natur. Mein erster Gedanke: Das ist kein Wald, das ist eine Kathedrale. Es ist schwer, diese Eindrücke in Bildern widerzugeben, ich versuche es trotzdem…
In den folgenden Tagen bin ich noch mehrfach in verschiedenen Parks mit riesigen und sehr alten Bäumen gewesen. Immer wieder stehe ich staunend vor diesen gewaltigen Holzsäulen, die mindestens 50m völlig astfrei sind. Viele Bäume weisen Spuren großer Waldbrände auf. Die Rinde ist eigentlich feuerresistent, wenn aber eine Beschädigung vorhanden ist, brennen die oft im unteren Bereich morschen Stämme von innen aus und es bilden sich große Höhlen. Die Bäume wachsen trotzdem weiter, nur irgendwann fällt auch der größte Baum – und bleibt einfach liegen. Sind eben Nationalparks. Manch einer, der so einen alten Baum sein Eigen nennen darf, macht daraus ein Geschäft, sägt ein großes Loch in den Baum und lässt Menschen gegen Bares durch den Baum fahren. Das Geschäftsmodell funktioniert anscheinend noch, allerdings sind die meisten der hiesigen Autos inzwischen so groß, dass sie steckenbleiben würden.
Meine Komfortzone habe ich in den letzten Wochen gleich zweifach verlassen. Und das ist wörtlich gemeint. Auf dieser Reise ist hinsichtlich des Schlafkomforts der Wurm drin. Schon vor Vancouver zeigte meine Isomatte am Kopfende eine dicke Wulst und drohte, sich weiter in ihre Bestandteile zu zerlegen. Susanne hat mir aus Deutschland dann eine neue Matte desselben Herstellers mitgebracht, genauso dick, allerdings deutlich leichter und kleiner zu verpacken. Die Freude über die neue Matte dauerte gerade einmal zwei Wochen, dann, beim Umdrehen, entwich die Luft innerhalb einer Sekunde und in der Mitte war ein ca. 20cm langer Riss – irreparabel. Ich habe noch in der Nacht in einer E-Mail an den Hersteller meinem Frust Luft gemacht und mir am nächsten Tag in einem Supermarkt eine große, sperrige, unbequeme Matte gekauft – es gab weit und breit nichts Besseres. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die Reaktion des Schweizer Herstellers: Er bot an, mir über seine Niederlassung in den USA eine neue Matte zuzuschicken. Nach einigen Mails hin und her steht fest, das Paket wird an UPS in Eureka geschickt. Bei meiner Ankunft im Store weiß man von nichts, obwohl das Paket zeitlich dort angekommen sein müsste. Irgendwie hat es ein Kommunikationsproblem gegeben. Also ein neuer Versuch in Fort Bragg.
Nicht witzig!
Frustriert bestelle ich mir im nächstbesten Laden einen Stapel Pfannkuchen – ersetzt keine Isomatte, ist aber immerhin ein kleines Trostpflaster. Kaum sitze ich wieder auf dem Fahrrad poltert etwas am Rahmen und auf dem Asphalt liegt eine dicke Schraube. Die stammt von meinem Ledersattel und hält den Bezug auf Spannung – einfach in der Mitte gebrochen (Kommentare zum Körpergewicht sind überflüssig!). Noch hält der Sattel, aber so kann ich nicht weiterfahren. Also den nächsten (und einzigen) Fahrradladen von Eureka angesteuert. Natürlich hat man dort keine Brooks-Sättel und erst recht keine Ersatzteile. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mir einen neuen Sattel zu kaufen – und jeder weiß, dass das eine sehr individuelle Entscheidung ist. Die nächsten Tage sind schmerzhaft!
Nur ein schwaches Trostpflaster und nicht die Ursache für die gebrochene Schraube im Sattel
Und als wenn das alles noch nicht genug gewesen wäre, erwartet mich am Ende des Tages noch eine böse Überraschung. Da ich erst spät aus Eureka abgefahren bin, habe ich mir als Ziel für diesen Tag den kommunalen Campingplatz in Ferndale ausgesucht. Eine gepflegte Kleinstadt mitten im weiten Farmland Nordkaliforniens. Schon bei meiner Ankunft habe ich mich über den starken Verkehr und die vielen Wohnmobile gewundert, denn ich wusste nicht, dass ausgerechnet in diesen Tagen in Ferndale das Humboldt County Fair stattfindet – Jahrmarkt und Livemusik. Und der Campingplatz mittendrin. Immerhin gibt es noch einen Hiker-Biker Platz für mich - inclusive Live Countrymusik von nebenan. Im Nachhinein war alles nur halb so wild, denn um 23.00 Uhr herrschte absolute Ruhe.
Bei Tageslicht ist Ferndale eine wirklich nette kleine Stadt in der Provinz im Norden Kaliforniens und gehört eindeutig zu den schöneren Orten, die ich hier gesehen habe
Seit Washington State folge ich weitgehend dem Highway 101, der sich an der gesamten Westküste der USA hinunterzieht. Hier in Kalifornien verlässt die Straße die Küste ein Stück ins Landesinnere und ist teilweise als Freeway ausgebaut, sodass ich ihn nicht überall befahren darf. Abseits der Küste wird es sehr schnell sehr heiß und zeitweise steigt die Temperatur am Lenker während der Fahrt auf über 42° (Celsius!). Hinzu kommt, dass es kaum Alternativen zum Highway gibt – außer Straßen, die man im Grunde nicht fahren möchte. 13 – 14% Steigung sind kein Spaß und anschließend auf Flusskiesel in einem fast ausgetrockneten Flussbett habe ich hier auch nicht erwartet. Immerhin gibt es eine Behelfsbrücke, sodass ich nicht durch den Fluss muss, um wieder auf eine befestigte Straße zu kommen – und ich habe mich nicht verfahren!
Bei Leggett verlasse ich den Highway 101 und biege auf den Highway 1 ab, dieser legendären Küstenstraße Kaliforniens, die als eine (von vielen) der schönsten Strecken der Welt gilt, Aber um an die Küste zu kommen, geht es erst einmal in die Berge und an diesem Tag kommen fast 1500 Höhenmeter zusammen. Nur einmal bin ich auf dieser Tour bisher mehr Höhenmeter an einem Tag gefahren, und das war ganz am Anfang auf dem Dalton Highway. Als Belohnung warten auf der anderen Seite nicht nur der Blick auf den Pazifik, sondern auch sehr angenehme Temperaturen. Das Auf und Ab bleibt aber, wenn auch immer nur sehr kurze Anstiege und Abfahrten.
In so einem Karton kann so viel Komfort stecken... Und der Sattel ist jetzt im Moment auch nur noch Ballast - aber sicher ist sicher!
Fort Bragg ist erreicht – von mir und auch von der neuen Isomatte! Per Express wurde sie hierhergeschickt und ich liege wieder sehr viel besser gepolstert im Zelt und die Packtasche ist auch nicht mehr so prall gefüllt. Hier gönne ich mir auch mal wieder einen Ruhetag, den ich auch dazu genutzt habe, verschiedene Geschäfte abzuklappern. Auch hier gibt im Fahrradhandel keine Brooks-Sättel. Aber im Geschäft für „Home Hardware“ finde ich ein breites Sortiment an Schrauben – auch mit metrischem Gewinde. Ein Bolzen, zwei Muttern – das soll für eine provisorische Reparatur des Sattels reichen. Hat ganz gut geklappt und fühlt sich auch ganz gut an. Mal sehen, ob und wie lange das Provisorium hält. Zur Not habe ich ja noch einen unbequemen, aber sehr leichten Ersatzsattel im Gepäck. Ich habe ja wieder Platz in der Tasche.
Auch in Fort Bragg hat man sich an der Vernichtung der alten Redwoods beteiligt - aber Dank des Engagements einiger Frauen auch eine Teil retten können
Ich folge jetzt dem berühmten Highway 1, oft direkt auf den Klippen und bis jetzt spielt auch das Wetter mit: kein Nebel, kein Wind, angenehme Temperaturen
Selbst die Tiere meinen es gut mit mir auf dem Campinplatz bei Fort Bragg
Es geht auf Mitte September zu und ich bin nicht nur auf halber Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles, sondern, zumindest, wenn man auf die Breitengrade blickt, auch auf halbem Weg zwischen meinem Startpunkt in Prudoe Bay und dem Äquator. Mit anderen Worten: Ich bin auf 35 Grad nördlicher Breite angekommen und damit auf der Höhe Tanger in Marokko. Es liegt also noch ein ganzes Stück vor mir…
Seit meinem letzten Bericht habe ich eine ganze Menge gesehen und versuche, einige Eindrücke hier widerzugeben. Ausgestattet mit einer funkelnagelneuen Iso-Matte und einem provisorisch reparierten Sattel mache ich mich von Fort Bragg auf den Weg nach San Francisco, der ersten Großstadt seit Vancouver und sicherlich eines der Highlights dieser Reise. Dort habe ich mir für drei Nächte ein Hotelzimmer gebucht, um mir die Stadt ohne Fahrrad anzusehen. Unterwegs mache ich halt auf einem kleinen Campingplatz an der zerklüfteten Küste in Walsh Landing. Abends nutze ich die Gelegenheit, in einem Restaurant in der Nähe etwas zu essen, denn meistens sind die Campingplätze der State Parks abgelegen von Ortschaften in der Natur. Der Burger ist aber nicht das Beste, was ich an diesem Abend geboten bekomme. Beim Essen mit Blick auf den Ozean entdecke ich weit draußen eine Gruppe Buckelwale, die sich dort stundenlang aufhält und wieder und wieder springen die Tiere aus dem Wasser und klatschen mit großer Fontäne auf die Wasseroberfläche. So etwas habe ich noch nie gesehen, leider ist die Entfernung sehr groß, aber ein Beweisfoto muss trotzdem sein.
Der 1. September ist in Nordamerika Labour Day und gleichzeitig das Ende der Sommerferien – the holy weekend. In diesem Jahr fällt er auf einen Montag und damit steht ein langes Wochenende bevor, als ich San Francisco erreiche. Nicht nur auf dem letzten Campingplatz drängen sich ca. 20 Radfahrer, die die freien Tage nutzen, auch auf den Radwegen herrscht am Sonnabend Hochbetrieb, meistens Rennradfahrer, die mir aus der Stadt entgegenkommen – es sind hunderte. Und dann stehe ich vor dem wohl markantesten und bekanntesten Punkt der gesamten Reise: der Golden Gate Bridge. Nicht planbar, nicht berechenbar, einfach dem Zufall und dem Glück geschuldet liegt sie in strahlendem Sonnenschein vor mir, was bei dem häufigen Seenebel keine Selbstverständlichkeit ist. Nach den obligatorischen und wenig originellen Fotos und einem Hotdog, der von Mexikanern für 10 Dollar aus dem Kofferraum ihres Autos heraus verkauft wird, mache ich mich bei leichtem Seitenwind auf den ca. 2,7km langen Weg über die Brücke. Anders als bei vielen anderen Brücken, gibt es auf der einen Seite einen Gehweg und auf der anderen Seite einen Radweg, sodass man unbeeinträchtigt vom Autoverkehr die Fahrt über die Meeresenge genießen und entspannt Fotostopps einlegen kann. Auf der anderen Seite ist das Licht auf die Brücke noch besser und es folgen einige weitere Fotos, bevor ich auf guten Radwegen am Strand und zahlreichen Sehenswürdigkeiten vorbei ins Stadtzentrum fahre, wo ich ohne Probleme und ohne extrem steile Berge mein Hotel erreiche und mein Rad für drei Tage im Hotelzimmer parke.
Die Lage des Hotels ist ein Glücksgriff. Gleich um die Ecke fahren die berühmten Cable Cars die steilen Straßen rauf und runter, Chinatown, Union Square, das Bankenviertel, Fisherman’s Wharf und viele andere markante Punkte kann ich locker zu Fuß erreichen. Wobei man „locker zu Fuß“ in dieser Stadt relativieren muss. Es gibt Straßen mit bis zu 40% Steigung und die Gehwege sind teilweise als Treppen angelegt – wirklich keine Bedingungen, um mit dem Rad unterwegs zu sein. Drei Tage sind zu wenig, um alles zu sehen und ich muss mich entscheiden. Natürlich fahre ich mit dem Cable Car und natürlich kaufe ich ein Ticket für die Hop-on-Hop-off-Busse, um auch entferntere Orte zu sehen und auch die folgenden Bilder sind nur eine kleine Auswahl.
Es gibt aber auch eine andere Variante, sich die in der Stadt fortzubewegen, die ich zuerst nicht richtig einordnen kann. Ich sehe viele Autos, die rundum mit Scannern ausgestattet sind und denke erst, dass hier wieder einmal die Straßen aufgenommen werden. Falsch! Hier wird autonom gefahren. Es müssen hunderte Fahrzeuge – fast ausschließlich Jaguar – sein, die ganz selbstverständlich im dichten Stadtverkehr unterwegs sind. Nie sitzt jemand am Steuer, meistens sitzt ein Fahrgast auf dem Beifahrersitz und manchmal kommt ein Auto um die Ecke, in dem niemand sitzt, hält an, nimmt Passagiere auf und fährt wieder los. Wir sind so weit hinterher!
Ein Besuch des Coit Tower auf dem Telegraph Hill, von dem man eine schönen Rundumblick auf die Stadt hat, der Dank eines ausgefallenen Fahrstuhls auch nicht so voll ist (220 Stufen sind vielen viel zu viel), macht noch einmal klar, welches Glück ich bei der Fahrt über die Golden Gate Bridge hatte – sie ist heute in einer Nebelbank verpackt.
Dieses Bild ist 24 Stunden, nachdem ich über die Brücke gefahren bin, entstanden
Nachtleben und Kultur lasse ich bei meinem Kurzbesuch aus und verlasse die Stadt voller Eindrücke und mit der Überzeugung, dass der Labour Day nicht der schlechteste Zeitpunkt hierfür war (außer, dass der Rummel auf der Fisherman’s Wharf nahezu unerträglich war). Vom Hotel rolle ich das kurze Stück zum Ferry Building, um mit einem kleinen Boot nach Treasure Island überzusetzen, denn die Oakland Bay Bridge, zweistöckig, genauso alt wie die Golden Gate Bridge, ist für Radfahrer gesperrt. Von Treasure Island fahre ich dann über eine moderne Brücke weiter nach Oakland. San Francisco hat nicht den besten Ruf und gilt als gefährlich. Im Stadtzentrum habe ich hiervon nichts mitbekommen und auch die verbreitete Armut ist hier nicht sichtbar. In Oakland und anderen Vororten sieht es da schon anders aus, wo Menschen wörtlich im Müll auf der Straße leben. Harte Kontraste!
Den Weg Richtung Osten aus der Stadt habe ich gewählt, weil noch ein anderes Ziel auf meiner Wunschliste hier in Kalifornien steht: Yosemite National Park. Und hier natürlich in erster Linie das Yosemite Valley. Das ungelöste Problem ist allerdings, dass Täler meistens in den Bergen liegen, was nur schwer zu erklären ist. Für mich bedeutet das, ich muss erst einmal über das Kalifornische Küstengebirge, um in das Central Valley zu gelangen und von dort über einen knapp 1900m hohen Pass in der Sierra Nevada zu meinem eigentlichen Ziel. Der direkte Weg führt durch touristisch wenig erschlossenes Gebiet und setzt bei der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten ein wenig Kreativität voraus. Hinzu kommt, dass in Kalifornien zahlreiche Waldbrände wüten und ich plötzlich vor einer Straßensperrung stehe. Neben einer Flasche kalten Wassers, das bei Temperaturen jenseits von 40 Grad immer willkommen ist, erhalten ich von dem freundlichen Polizisten noch eine Empfehlung für eine Alternativroute und einen Campingplatz am Don Pedro Stausee. Dieser ist mit 40 Dollar einer der teuersten auf der gesamten bisherigen Tour. Dafür bin ich ausnahmsweise einmal nahezu allein und morgens werde ich von einem vielstimmigen Vogelkonzert geweckt. Ein besonderes Schauspiel bieten dabei die zahlreichen Eichelspechte, die Eicheln überall in Holzpfosten oder Baumrinde deponieren.
Am nächsten Morgen geht es nach einem kurzen Stopp in der ehemaligen Goldgräberstadt Coulterville, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, setze ich meinen Weg in Richtung Nationalpark fort und falle wieder einmal auf die Routenempfehlung von Komoot herein, statt der „offiziellen“ Wegweisung zu folgen. Ein Waldweg, der den Namen nicht verdient, Wege, die es nicht gibt und schließlich eine gesperrte Brücke als einzigem Ausweg aus diesem Irrgarten. Nach vielen sehr schweren Höhenmetern erreiche ich abends noch einen Campingplatz, wo ich den letzten freien Platz in der Nähe der Müllcontainer ergattere, was nicht weiter problematisch ist, wäre da nicht der große Schwarzbär, der immer wieder auf Futtersuche auf den Platz kommt und den Müllcontainer auch schon einmal umgeworfen und den Metalldeckel aufgebogen hat. Der Bär lässt sich nicht blicken, dafür macht allerdings eine Jugendgruppe bis weit nach Mitternacht Krawall.
Am nächsten Morgen mache ich mich an den langen Anstieg ins Yosemite Valley, dem Herzstück des Nationalparks. Der Rauch der Waldbrände trübt die Sicht ins Tal bei sonst klarem Wetter stark und nimmt einem die Belohnung für die Mühen bis auf die Passhöhe. Auf der anderen Seite geht es dann 700 Höhenmeter ins Tal. Wie zu befürchtet, bin ich nicht der einzige Besucher im Tal – in diesem Jahr werden ca. 6 Millionen Touristen erwartet. Es herrscht Rummel. Allerdings ist die Natur auch spektakulär, nicht nur die ca. 1000 Meter hohen Granitwände von El Capitan und Halfdome, die das Ziel von Klettern aus aller Welt sind, sondern die Wasserfälle, die Berge, Flüsse und Wälder sind unglaublich schön und glücklicherweise hat es der Rauch auch nicht bis ins Tag geschafft. Natürlich kann man den Nationalpark so erst so richtig erschließen, wenn man auf den zahlreichen Trails wandert – das möchten meine Knie allerdings nicht. Also bleibe ich unten.
Alles, was es hier im Tal gibt, wird von einer einzigen riesigen Firma mit ca. 1000 Mitarbeitern betrieben. Auch alle Campingplätze, die restlos ausgebucht sind. Nur ein kleiner Bereich für Wanderer wird von der Nationalparkverwaltung betreut. Ich will mich gerade dort registrieren, als John auf dem Fahrrad vorbeikommt und mir Bett, Essen, Dusche und einen klimatisierten Raum anbietet. Wer könnte da Nein sagen. John ist einer der 1000 Angestellten dieser Firma, wohnt in einem Camp und hat dort eine bis unter das Dach (wörtlich gemeint) mit Krams vollgestopfte Hütte von ca. 12m² Größe, die er sich mit seinem Hund teilt und in der ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Alkohol und Cannabis spielen dabei auch eine gewisse Rolle und ich bin nicht sicher, ob die Entscheidung gut war, mitzukommen. Das angebotene Essen ist ein in der Mikrowelle aufgewärmter Hamburger mit Pommes, die John irgendwo kostenlos bekommt und im Kühlschrank stapelt. Immerhin Duschen und Gemeinschaftsküche sind hervorragend und auch eine Waschmaschine und Trockner kann ich auch kostenlos nutzen. Ich hätte die Gastfreundschaft sicher noch länger in Anspruch nehmen können, aber die Umstände lassen mich am nächsten Morgen dann doch den Weg aus dem Tal suchen.
Ich steuere in Richtung Südwesten zurück an die Küste, wo die Temperaturen angenehmer sind, auch wenn mir dadurch die Wüsten in der Sierra Nevada entgehen. Dafür bekomme ich noch einmal einen sehr intensiven Eindruck vom Central Valley. Fast zwei Tage gebrauche ich, um quer durch das Tal zu fahren, das über 600 km lang und bretteben ist. Hier ist der Obst- und Gemüsegarten der USA mit einem Anteil von mehr als 50% der Gesamtproduktion. Ein Farmer sagte mir, dass hier z. B. 95% aller Tomaten für Ketchup und Tomatensoßen produziert werden. Auf seiner Farm werden sie drei Monate lang 24/7 geerntet. Erst fahre ich durch Weinplantagen. Die Trauben sind größtenteils geerntet und liegen zum Trocknen am Boden. Es folgen endlosen Mandelplantagen, später Pistazien, Baumwolle, Walnüsse, Granatäpfel und vieles mehr. Dazwischen immer wieder Milchviehfarmen, wie ich sie in dieser Größe noch nie gesehen habe, wobei sich natürlich ein Verdacht aufdrängt: Was machen zwischen all den Mandelplantagen diese Rinder? Kommt hier etwa die Mandelmilch her? Auch hier bekomme ich nur einen winzigen Eindruck von der Gesamtgröße, die sich mit nichts in Westeuropa vergleichen lässt. Und alles muss bei der sengenden Hitze künstlich bewässert werden!
Eines gibt es allerdings nicht: Hotels, Campingplätze oder Orte, wo man sein Zelt hinter einem Busch aufschlagen könnte. Unkontrollierten Wildwuchs gibt es nicht. Alles ist im rechten Winkel angelegt, klinisch sauber (oder ökologisch tot) und selbst in einer Plantage wäre mein Zelt auf hunderte Meter zu sehen. In Caruthers habe ich das Glück, auf dem Kinderspielplatz einer Kirche (welcher Konfession auch immer, die Teilnahme am abendlichen Gottesdienst habe ich dankend abgelehnt) auf grünem Rasen (!) mit Wasserhahn und Stromanschluss mein Zelt aufstellen zu dürfen. Am nächsten Tag habe ich dieses Glück nicht und muss mein Zelt mangels Alternative ein paar Meter neben der Fahrbahn am Highway aufbauen, denn ich habe die Ebene verlassen, rundum sind nur Hügel mit verdorrtem Gras und alles ist mit Stacheldraht abgeriegelt.
Wenn man seinen Burger serviert bekommt, hofft man ja immer, das Fleisch stammt von einem Rind, das so gelebt hat, die das einzelne Tier auf dem Berg (erstes Foto) und es kommt nicht von der Milchkuhfarm
Inzwischen bin ich wieder an der Küste angekommen, habe den heißen Gegenwind gegen eine kühle Brise vom Meer eingetauscht und übernachte wieder auf einem State Park Campingplatz mit Blick auf Ozean und Sanddünen von Morro Bay. Noch ein paar Tage, und ich erreiche Los Angeles. Auf dem Weg dorthin geht es durch Orte mit so klangvollen Namen wie Santa Barbara, Santa Monica oder Malibu. Ich werde berichten.
Auch deswegen: Immer einen Helm tragen!
Nach den endlosen Plantagen im Central Valley bin ich zurück an der Küste und fahre ohne große Umwege auf dem PCH (Pacific Coast Highway) in Richtung Süden. Das bedeutet allerdings auch, immer wieder lange Strecken auf der Hauptstraße unterwegs zu sein und auf dem mehr oder weniger breiten Seitenstreifen den dichten Verkehr an mir vorbeiziehen zu lassen. Nicht überall ist der PCH für Radfahrer freigegeben und dann heißt es, auf Nebenstraßen ausweichen. Das ist ruhiger und auch sicherer, allerdings passiert es dann schon einmal, dass man vor einem großen, verschlossenen Tor steht und die Straße über Privatgelände führt. Ich habe Glück, dass der Eigentümer zufällig sein Anwesen durch dieses Tor verlässt und mir erlaubt, durchzufahren, was mir einen langen Weg zurück erspart. Auch hier an Küste gibt es teilweise ausgedehnte Gemüseplantagen und diesem Abend muss ich dann wieder einmal irgendwo zwischen den Feldern mein Zelt aufschlagen. Immerhin ist hier nicht alles eingezäunt und von der Straße kann man mich auch nicht sehen.
Die Richtung ist vorgegeben
Die Orte an der Küste werden schicker sehen so aus, wie man sich Kalifornien aus dem Fernsehen vorstellt: Villen auf den Klippen, am Strand und in den Bergen, traumhafte Sandstrände, Bay Watch, Surfer… Nach Pismo Beach komme ich durch Santa Barbara, das allen Klischees gerecht wird und tatsächlich sehr schön und gepflegt ist. Je mondäner die Orte, desto schwieriger wird es allerdings für mich auch Möglichkeiten zu finden, mein Zelt aufzuschlagen. Wenn überhaupt, gibt es eher Wohnmobilstellplätze als Campingplätze. Deswegen habe ich keine Zeit, mir Santa Barbara näher anzusehen, denn die Dämmerung bricht bereits herein und ich habe noch keinen Platz für mein Zelt. Erst gegen 19.00 Uhr erreiche ich den State Park in Carpinteria und schlage dort in der Dunkelheit mein Nachtlager auf. Nach den vielen State Park Campingplätzen im Norden in toller Lage, sind es hier mehr und mehr nur noch Strände und Abstellmöglichkeiten für Wohnmobile direkt am Straßenrand. Dabei werden die Orte immer luxuriöser und die Namen klangvoller.
Wenn zur Ausstattung von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr Surfbretter gehören, weiß man, dass man in Kalifornien ist
Nächste Station: Malibu. Aussichtslos, hier eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden und deswegen geht’s noch einmal 10 km landeinwärts in die Berge in den Malibu Creek State Park. Aber als wäre es nicht genug, dass ich nach der langen Etappe ohnehin schon recht spät dran bin, habe ich mitten in Malibu nach 8000 km den ersten Platten. Ein dicker Draht hat den Hinterreifen tiefer gelegt. In der Zufahrt eines Luxusanwesens mit Videoüberwachung repariere ich den Schaden und fahre bei fast vollständiger Dunkelheit die kurvige, enge Strecke bei dichtem Verkehr in die Berge. Wider Erwarten ist die Rezeption des State Parks auch um 20.00 Uhr noch besetzt, und noch unerwarteter, bin ich nicht der einzige Spätankömmling. Eine Radfahrerin, die auf einem Wochenendtrip aus LA unterwegs ist, versucht gerade, den Preis für den Zeltplatz zu verhandelt, denn hier gibt es keine Hiker-Biker-Plätze und es ist der volle Preis von 45 Dollar fällig. Innerhalb weniger als einer Minute sind wir uns einig, einen Platz und den Preis zu teilen – und wieder einmal heißt es, mit Stirnlampe aufzubauen und zu essen, bevor es unter die Dusche geht. Natürlich muss die extra bezahlt werden.
Warum liegt so etwas ausgerechnet in Malibu auf der Straße herum? Auch für die besten Reifen keine Chance nach 8000km ohne Platten!
Zurück in Malibu staune ich über den offenkundigen Luxus. Riesige Villen an den Hängen der Berge oder versteckt hinter hohen Hecken und Mauern, die neugierige Blicke abhalten, direkt am Meer. Der Ort, und vor allem der Streifen zwischen Pacific Coast Highway und Meer wird immer enger und dann kommt das, was vor einem Jahr weltweit für Schlagzeilen sorgte: die Überreste der verheerenden Waldbrände in dieser Region. Über mehrere Kilometer sind an der Ortsdurchfahrt alle Häuser direkt am Meer vernichtet worden. Und auch auf der anderen Seite, in den Bergen, hat das Feuer gewütet. Die meisten Brandstellen sind geräumt und nur noch die Betonfundamente und Stahlgerüste lassen erahnen, was hier einmal gestanden hat. Nur die Natur hat sich überraschend gut regeneriert und zeigt kaum noch Spuren der Katastrophe.
Gedenken in Malibu an eine andere Katastrophe: Eine Flagge seines Heimatlandes für jedes Opfer des 11. September
Los Angeles ist groß. Riesengroß. Nach Einwohnern die zweitgrößte Stadt der USA, was aber noch viel mehr beeindruckt, ist die Ausdehnung der Stadt und ihrer Vororte. Zu groß, um sie in einem Kurzaufenthalt kennenzulernen. Drei Nächte gebe ich mir und miete mich in Santa Monica in Strandnähe ein. In Versuchung, die Stadt mit dem Fahrrad zu erkunden, komme ich gar nicht erst. Allein die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der „näheren Umgebung“ nehmen schnell zwei Stunden – eine Richtung – in Anspruch und dabei bin ich noch weit von einer Durchquerung der Stadt entfernt. Die Auswahl ist nicht so einfach, was man gesehen haben muss. Venice Beach – klar. Habe ich mir schon auf dem Weg in mein Domizil angesehen und die Ernüchterung könnte kaum größer sein, aber vielleicht ist ein Montagnachmittag Mitte September auch nicht die Primetime, um das zu erleben, was diesen Strand ausmacht. Ein toller Strand, weitgehend menschenleer, ein paar Jogger, ein paar Skater, einige Radfahrer. Am meisten los ist noch auf der Rollschuhbahn und der Skaterbahn. In Muscle-Beach herrscht deutlicher Muskelschwund. Irgendwie fehlen mir die Poser und Selbstdarsteller, denen dieser Strandabschnitt seinen Ruf verdankt. Dafür gibt es viele Obdachlose, die bei den wenigen Menschen noch mehr ins Auge fallen als sonst. Und das Angebot der Geschäfte macht auch sehr deutlich, dass es sich hier um eine Touristenfalle handelt.
Und damit bin ich aus schon bei einem der anderen Pflichtprogrammpunkt: Hollywood. Ein Bild von dem Schriftzug in den Bergen muss man wohl mitbringen, wenn man in LA war. Alle Sterne auf dem Walk of Fame sind ein bisschen zu viel des Guten und die Touren durch die Filmstudios überlasse ich lieber anderen. Es ist hier einfach nicht meine Welt, auch wenn ich es mir nicht nehmen lasse, einmal die Treppe im Dolby Theatre hinunterzugehen, wo sonst die Stars zur Oscar-Verleihung über den roten Teppich schweben. Einen roten Teppich hat niemand für mich ausgerollt, Stars habe ich keine gesehen (oder erkannt) und ich wurde auch nicht von der Straße weg engagiert.
Nach so viel Ernüchterung kann mich nur noch die Kultur retten. Am zweiten Tag entschließe ich mich, das Getty Museum zu besuchen und bin von dieser Anlage begeistert. Man erreicht den Gebäudekomplex auf den Hügeln über der Stadt mit einer eigenen Tram, alles ist wie aus dem Ei gepellt und der Besuch ist kostenlos. Was hier mit den Mitteln einer Stiftung des einst reichsten Menschen der Welt geschaffen wurde, macht noch einmal deutlich, wie unvorstellbar für einen Normalverdiener diese Dimensionen von Reichtum sind. Und dabei habe ich noch nicht einmal von der Kunstsammlung im Innern der Gebäude gesprochen, weil ich dazu zugegebenermaßen auch zu wenig Ahnung habe. Schlusspunkt ist dann noch ein Besuch im Griffith Observatory, von wo man einen sehr guten Blick über die Stadt hat – wenn das Wetter mitspielt. Allerdings zieht nachmittags eine Wolkendecke auf. Keine gute Sicht, kein Sonnenuntergang über LA und kein Blick durch das Teleskop in die Sterne, also noch einmal zwei Stunden Bus fahren, um nach Santa Monica zurückzukommen.
Um weiter in Richtung Süden zu fahren, muss ich einmal durch ganz LA, was allerdings, anders als die Touren in der Stadt, mit dem Fahrrad überhaupt kein Problem ist, denn man fährt überwiegend auf hervorragenden Radwegen direkt am Strand und kommt dann durch die gepflegten Vororte, wie Long Beach, wo der Name Programm und der Strand noch verwaister als die Strände auf dem Weg in die Stadt ist. Bis nach San Diego sind es nur wenige Tage und es reiht sich jetzt fast in geschlossener Reihe ein Küsten- und Badeort an den anderen. Surfer bestimmen das Bild an den Stränden und cooler als auf einem E-Bike im Neopren-Anzug und einem Surfbrett an der Seite zum Strand zu düsen, geht einfach nicht. Da kann ich nicht mithalten.
Letzte Station auf meinem Weg durch Kalifornien und damit auch der Schlusspunkt in den USA ist San Diego, unmittelbar an der Grenze zu Mexiko. Kurz vor der Stadtgrenze komme ich durch La Jolla, wo sich in der Bucht Seelöwen und Seehunde tummeln und man sogar mit ihnen schwimmen kann. Selbst mir rückt ein Seelöwe bis auf Kontakt mit meinen Füßen auf der untersten Stufe der Treppe zum Strand auf die Pelle. Dazu kommen noch viele Seevögel und ein reges Unterwasserleben. Ich mag mein Fahrrad und meine Wertsachen bei so vielen Menschen nicht unbeaufsichtigt irgendwo liegenlassen, deswegen verzichte ich auf das Bad in der (Seelöwen-)Menge und auch eine Paddeltour in der Bucht und durch die Felshöhlen.
Dass San Diego die achtgrößte Stadt der USA und die zweitgrößte Stadt von Kalifornien ist, war mir vorher nicht bewusst. Allerdings ist der Unterschied zwischen der Nr. 2 und der Nr. 8 in den USA gewaltig – auch von der Ausdehnung. Natürlich ist San Diego auch riesig, aber hier bewege ich mich mit meinem Fahrrad durch die Stadt und komme dabei schnell und sicher von A nach B (es ist Sonntag, d. h. kein Berufsverkehr). Die meisten der Hauptattraktionen lasse ich aus: Sea World, den Zoo von San Diego, den Sesamstraßen-Park, Legoland… Ich belasse es bei Eindrücken aus dem riesigen Balboa-Park mit seinen vielen Museen, der Downtown mit dem Hafen und Old Town San Diego (auch die ist mehr Rummel als Freilichtmuseum). San Diego wirbt für sich mit dem besten Wetter der USA und ca. 260 Sonnentagen im Jahr. Ich habe bedeckten Himmel und leichten Regen – das erste Mal seit vielen Wochen. Morgen geht’s mit einem kleinen Umweg bei Tecate über die Grenze nach Mexiko, um so Tijuana zu umgehen. Ich bin sehr gespannt. Auf jeden Fall wird die Kommunikation für mich bis zum Ende dieser Reise schwieriger, denn mein Spanisch reicht zum Überleben, aber nicht für eine echte Unterhaltung. Ich werde berichten.