Raus aus San Diego, ab in die Berge und am Spätnachmittag stehe ich vor dem Grenzübergang von Tecate und verlasse die USA. Ich habe mich für die Route über die Baja California entschieden, dieser 1400km langen Halbinsel im Pazifik, von der ich mir nicht nur schöne Küsten und Landschaften, sondern auch weniger Verkehr und ein langsames Herantasten an dieses riesige Land erhoffe, um später von dort mit einer Fähre auf das Festland überzusetzen. Außerdem umgehe ich damit auch die mexikanische Grenzstadt Tijuana, wie San Diego auch eine Millionenstadt, die nicht den besten Ruf genießt. An der Grenze dann keine Kontrolle seitens der Amerikaner und eine Grenzabfertigung der Mexikaner, die diesen Namen kaum verdient hat. Es ist wenig Verkehr und ich werde auf den Gehweg gelotst, wo ich mein Fahrrad zur Gepäckkontrolle schiebe. Das Gepäck wird durchleuchtet, aber nachdem ich eine von sechs Taschen auf den Scanner gelegt habe, winkt der Kontrollbeamte bereits ab und lässt mich passieren. Allerdings hatte ich vorher die Station übersehen, wo die Passformalitäten erledigt werden. Also Fahrrad abstellen und noch einmal zurück. Mit einigem Papier ausgestattet, schickt mich der freundliche Beamte auf die andere Straßenseite, wo ich bei der Bank 861 Pesos – umgerechnet knapp 40 Euro – einzahlen muss, um dann mit dem Zahlungsbeleg zurückzukehren und mit Stempel und 180 Tagen Zeit, mexikanischen Boden zu betreten. Alles sehr unkompliziert und entspannt. Die Dämmerung setzt bereits ein und wenige hundert Meter hinter dem Grenzübergang miete ich mich für ca. 28 Euro im Hotel Tecate am Parque Miguel Hidalgo ein. Nicht nur die Preise sind hier andere, als ich sie auf meiner bisherigen Tour kennengelernt habe, auch sonst muss ich mich in mancherlei Hinsicht komplett umstellen: Sprache, Währung, Essen, Straßenverhältnisse, Armut – ab jetzt wird die Reise interessanter.
In Mexiko hat man's gern farbenfroh. Die Stadt Tecate liegt direkt an der Grenze zu den USA und deswegen verläuft der Grenzzaun auch unmittelbar entlang der Stadtgrenze
Auf der Karte sieht der direkte Weg aus der Stadt nach Süden aus, als wäre es eine vierspurige Autobahn mit einem großen Autobahnkreuz am Ortsausgang. Da ich nicht weiß, ob ich diese Straße mit dem Rad befahren darf, vertraue ich wieder einmal auf mein Navi und werde durch sehr arme Wohnviertel mit staubigen Straßen in einem Bogen durch die Berge um die Stadt herumgeführt, mit Steigungen bis zu 18% und Temperaturen zwischen 40 und 45° C am Lenker – es braucht auch keiner zu fragen, ob im Schatten oder in der Sonne. Es gibt keinen Schatten auf der Straße. Und dann stehe ich mit einem Mal vor einem Bus, der die Straße blockiert. Ob er hier in dieser Position liegengeblieben ist und stehengelassen wurde, oder ob es sich um eine bewusste und sehr effektive Straßensperrung handelt, erschließt sich mir nicht. Jedenfalls führt kein Weg dran vorbei und über einen kleinen Umweg setze ich meine Fahrt fort, bis ich vor einem mächtigen Tor einer Ranch stehe: Privatgrundstück, Betreten verboten! Und hier gibt es keine Alternativroute. Völlig frustriert und nach sehr viel unnütz investierter Energie trete ich den Rückweg an und nehme jetzt den direkten Weg aus der Stadt – übrigens völlig problemlos.
Das Ganze hat mich zwei Stunden und viel Kraft gekostet und entnervt mache ich bereits am Stadtrand meine erste Pause, nach der das Thermometer am Lenker 54° C anzeigt. Und es ist auch jetzt schon klar, dass ich mein angepeiltes Tagesziel, die Stadt Ensenada an der Pazifikküste, heute nicht mehr erreichen werde. Also muss ich mir auf der Strecke, die durch ein ausgedehntes Weinanbaugebiet mit vielen luxuriös wirkenden Weingütern führt, eine andere Unterkunft für die Nacht suchen und steuere einen Platz an, der als „Glamping“ ausgewiesen ist. Bei meiner Ankunft setzt wieder einmal bereits die Dunkelheit ein und das Tor ist geschlossen. Dahinter auf einem weitläufigen Gelände ca. 20 nicht mehr ganz taufrische Airstream-Wohnwagen, die offenbar als Glamping-Unterkünfte vermietet werden. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen und unter beiden angegebenen Telefonnummern ist niemand zu erreichen. Mit Hilfe der Eigentümerin einer benachbarten Gemüsefarm gelingt es, den Eigentümer doch noch zu erreichen und ein Mitarbeiter lässt mich auf den Platz und weist mir einen Airstream zu, wo ich unter einem Sonnensegel mein Zelt aufbauen und Toilette und Dusche in dem Wohnwagen nutzen könne. Ich will gerade mein Zelt auspacken, da meldet sich der Besitzer noch einmal und gibt seinem Mitarbeiter die Anweisung, dass ich auch im Wohnwagen übernachten könne. Wenig später kommt er dann auch noch mit frischer Bettwäsche, einer riesigen Flasche Duschgel und Toilettenpapier zurück – und kassiert 200 Pesos, 9 Euro! Die Erwartungen an so einen in die Jahre gekommenen Airstream sollte man nicht zu hoch stecken, aber ich habe eine Unterkunft und auch noch eine heiße Dusche nach meinem ersten Tag im dritten Land meiner Tour.
Ensenada erreiche ich dann mit einem halben Tag Verspätung. Im Hafen liegt ein Kreuzfahrtschiff und dementsprechend ist die Innenstadt gespickt mit Touristenangeboten aller Art. Ich begnüge mich mit einem Mittagessen und setze meine Fahrt an der Küste fort, wo die Temperaturen etwas angenehmer sind. Da in Mexiko immer wieder von Überfällen auf Touristen berichtet wird, vermeide ich es, wild zu zelten und versuche Campingplätze zu erreichen oder gehe in günstige Hotels. Mit der Sicherheit auf den Campingplätzen ist es so eine Sache, denn ich bin außerhalb der Hauptreisezeit unterwegs und wenn ich denn auf einen Campingplatz komme, bin ich der einzige Gast, was durchaus seine Vorteile hat, allerdings fehlt die vermeintliche Sicherheit vor Übergriffen wegen der Nähe anderer Menschen. Und auch auf sicheren Plätzen lauern Gefahren, z. B. wenn man morgens beim Packen eine kleine Schlange, vermutlich eine Klapperschlange, im Vorzelt findet!
Ich bin in Mexiko. Und zu Reisen in Mexiko gehört es wohl zwangsläufig dazu auch einmal von Montezumas Rache heimgesucht zu werden. Wahrscheinlich ist es meiner eigenen Ignoranz zu verdanken, dass auch ich ihre Bekanntschaft machen musste, weil ich in der Gewissheit eines robusten Magens, einfach unvorsichtig war, mit dem, was ich gegessen habe. Hat ein paar Tage gedauert, war auch nicht besonders schlimm und ich konnte die ganze Zeit normal weiterfahren. Und das soll zu diesem Thema dann auch reichen…
Nicht das gute mexikanische Essen ist schuld, sondern die eigene Unvorsichtigkeit
(ein normales, leichtes Frühstück)
Auf meinem Weg Richtung Süden folge ich der Carreterra Federal 1 oder Carreterra Transpeninsular, die die Baja California durchgängig auf ihrer gesamten Länge erschließt. Dabei verläuft sie auf den gut 1700 km allerdings nicht geradlinig, sondern führt dabei streckenweise sowohl entlang der Atlantikküste als auch der Küste des Golfs von Kalifornien, sodass man auch immer wieder abseits der Küsten im Hochland unterwegs ist, womit es dann jedes Mal sehr heiß wird, was Temperaturen über Stunden um 45° C bedeutet. Wichtigste Fragen sind deswegen immer: Habe ich genug Wasser und wo gibt es die Möglichkeit, wieder Wasser zu kaufen? Denn spätestens seit meiner Bekanntschaft mit Montezuma ist alles andere als für mich tabu, auch wenn ich Wasserfilter und Micropur im Gepäck habe – es soll ja auch noch einigermaßen schmecken, wenn man schon fast ständig heißes Wasser trinken muss (heiße Cola kann ich übrigens auch nicht unbedingt empfehlen). Schlechte Erfahrungen habe ich dabei – und insgesamt im Umgang mit den Mexikanern – erst einmal gemacht, als ich in einem kleinen „Café“, einsam auf weiter Strecke, eine Kleinigkeit essen und meine Wasservorräte ergänzen will. Obwohl ein Schild mit „Abierto“ im Fenster hängt, kommt der dickbäuchige Inhaber heraus, bevor ich mein Fahrrad abgestellt habe und erklärt, dass geschlossen sei. Auf meine Bitte um Wasser reagiert er, in dem er mir zu verstehen gibt, dass er kein Wasser habe und ich fünf Kilometer weiter Wasser bekommen könne. Das Einzige, was ich dort vorfinde, ist ein matschiges Wasserloch, aus dem das Vieh trinkt. Wäre ich nicht so ein friedfertiger Mensch und wäre es nicht mit 10km Umweg verbunden gewesen, hätte ich auf die Idee kommen können, zurückzufahren und mein Bärenspray einmal zu testen! Glücklicherweise hatte ich noch genug Reserven, um problemlos den nächsten Ort zu erreichen. Übrigens gibt es über diesen Menschen zahlreiche weitere Hinweise im Netz, dass er sich auch anderen gegenüber extrem abweisend verhalten hat.
Baja California ist über weite Teile eine fast menschenleere Wüste. Allerdings ändert sich die Landschaft ständig. Berge, Ebenen, Sand, Felsen, Steppen und Kakteenwälder wechseln sich ab. Und manchmal kommt man sich vor, wie in einem alten Western mit verendeten Rindern und Steppenhexen am Wegesrand, die glücklicherweise nicht über die Straße rollen.
Mit den Öffnungszeiten habe ich aber auch andere Erfahrungen gemacht. Auf der Strecke gibt es wohl kaum etwas so häufig wie „Llantera“ – Reifenhandel. Die Masse der Überreste geplatzter Reifen am Straßenrand macht deren Berechtigung durchaus verständlich, wobei man sich unter einem Reifenhandel wiederum auch nicht zu viel vorstellen darf. An einem Truckstopp mit gepflegtem Restaurant und einer „Llantera“ findet sich der Hinweis, dass man 24 Stunden geöffnet habe. Nach einer reichhaltigen Mahlzeit bekomme ich die Erlaubnis, mein Zelt kostenlos auf dem Gelände aufzuschlagen, wo immer es mir gefällt. Ich finde einen Platz, so weit wie möglich von der Straße entfernt, an der sich auch die „Werkstatt“ befindet. Hier ist der Kunde offenbar noch König, denn bis mindestens 04.00 Uhr in der Nacht wird an einem LKW gearbeitet, mit Schlagschraubern und allem anderen, was Krach macht. Man kann nicht immer gewinnen und nicht immer ist kostenlos auch wirklich günstig.
Passt ein bisschen zum schrägen Wildwest-Idyll, auch wenn dieser Gaul nicht vor einem Saloon, sondern vor einem Truckstopp liegt
Die Baja California besteht überwiegend aus Wüsten oder Halbwüsten. Nur in einigen Küstenabschnitten gibt es ausgedehnte, künstlich bewässerte Gemüseplantagen oder es gibt Rinderfarmen, bei denen mir nicht klar ist, wovon sich die Tiere ernähren. Kakteen und Sukkulenten prägen im Übrigen über viele hundert Kilometer das Bild. Es sind aber nicht irgendwelche Kakteen: Die Kandelaberkakteen sind die größten Kakteen der Welt und die Cirios (wie auch viele andere) kommen hier endemisch vor und sind in einem Nationalpark geschützt. Zuerst ist die Landschaft fast nur grau-braun, allerdings je weiter ich nach Süden komme, desto grüner wird’s. Ich befürchte, es wird sich noch rächen, dass ich so schnell unterwegs bin, denn der September und Oktober sind Regenzeit in Mexiko. Gut, es ist Anfang Oktober und ich habe seit Orgeon keine richtigen Regen mehr abbekommen und der Norden der Baja California ist auch nach wie vor knochentrocken. Hier, in der Baja California Sur, hat es aber offenkundig ergiebig geregnet, die Landschaft ist grün und viele Pflanzen blühen. Dass das Wetter hier auch ganz anders kann, zeigen die vielen angelegten Furten über die Straßen und die tiefen Auswaschungen. Was Starkregen der Wüste bedeuten kann, habe ich vor einigen Jahren bei meiner Tour in Utah erlebt und muss ich nicht hier nicht unbedingt haben. Allerdings wird es mir spätestens, wenn ich die Halbinsel verlassen habe, nicht gelingen, dem Regen zu entkommen. Dafür hätte ich mir wohl im Norden einen Monat mehr Zeit nehmen müssen.
Die Wüste lebt! Nach Regenfällen grünt und blüht es überall und mit einem Mal kommt Farbe in das bisher übliche Grau-Braun
Immer wieder finden sich in der Wüste Felsmalereien aus einer Zeit, bevor Europärer Amerika erreichten, wie hier in dieser kleinen, unscheinbaren Höhle in den Bergen
Auch wenn Bäume und Sträucher Laub tragen und überall frisches Grün aus dem Boden sprießt, erinnern die vielen Kakteen immer daran, dass ich noch immer durch eine Wüste fahre. Dazu wollen ein Hirsch, der vor mir über die Straße trottet und bei meinem Anblick die Flucht zwischen die Kakteen antritt ebenso wenig passen, wie San Ignacio, das mit seinen vielen Dattelpalmen und einem See mitten in der Wüste idealtypisch dem Bild einer Oase entspricht – beides keine Fata Morganas, sondern ein wenig Abwechslung auf dem Weg von der Guerrero Negro an der Pazifikküste nach Santa Rosalía am Golf von Kalifornien. Der Besitzer des Motelito Fong in San Ignacio, wo ich mich für die Nacht einquratiere, lässt es sich nicht nehmen, mir gleich bei meiner Ankunft Fotos zu zeigen, wie er mit auf einem Einrad durch ganz Mexiko gefahren ist und legt dann gleich noch ein paar keine Zaubertricks nach.
Warum San Ignacio sich am Ortseingang mitten in der Wüste mit einem Walskelett schmückt, wird wohl immer ein Geheimnis der Stadtvater bleiben. Der Ort geht auf eine Gründung der Jesuiten zurück, was im Zentrum an der Kirche sehr deutlich wird. Mit seinem See und den Dattelpalmen hat San Ignacio alles, was eine richtige Oase in der Wüste haben muss
Nach der 144km langen Etappe bis hierher und den folgenden 80km bis Santa Rosalía bei durchgängig Temperaturen von 40 – 47°C entschließe ich mich kurzfristig, hier einen Tag auszuruhen, nachdem ich mehr als 1000km seit San Diego ohne Ruhetag in der Wüste unterwegs bin. Vor mir liegen noch ca. 600km bis La Paz, der Hauptstadt von Baja California Sur, wo die Fähre zum Festland ablegt. Ich werde berichten.
Bergbau und Fischerei prägen Santa Rosalía am Golf von Kalifornien mit einer riesigen Industriebrache aus der Zeit des Kupferbergbaus mitten im Ort. Die Mine gibt es immer noch, allerdings inzwischen überwiegend in südkoreanischer Hand und es werden Kobalt, Zink und Mangan gefördert. Und die Kirche Santa Barbara im Stadtzentrum verdankt ihre Bekanntheit wohl ausschließlich der Tatsache, dass sie von Gustave Eiffel entworfen, in Europa gebaut und später hierher gebracht wurde - ich finde Eiffel hat schon Besseres geleistet.