Infratruktur, Versorgungsmöglichkeiten und auch die Straße sind noch dürftiger als in Alaska. Und als ich nach mehr als 100 schweren Kilometern in Burbush Landing ankomme, hat der einzige Laden mit einem Imbiss bereits geschlossen. Also noch einmal in den Sattel geschwungen, um die 16 Kilometer bis Destruction Bay zu fahren, die ich aber glücklicherweise in einem Pilotcar in einer Baustelle deutlich verkürzen kann. In Destruction Bay will ich mich eigentlich mit Martin treffen, der heute deutlich schneller als ich unterwegs ist. Von ihm gibt es aber keine Spur. Dafür aber einen deftigen Hamburger und einen kostenlosen Platz zum Zelten in den Büschen am Straßenrand. Als ich am nächsten Morgen gerade mein Frühstück beendet habe, erreicht auch Martin Destruction Bay. Er hatte in Burbush Landing am Lake Kluane übernachtet. Allerdings hatte er am Morgen kein Pilotcar, das ihn aufnahm, da die Baustelle wegen des bevorstehenden Nationalfeiertags ruhte.
Die Vorstellungen vom Reisen sind sehr, sehr unterschiedlich...
Wieder gemeinsam fahren wir Richtung Haines Junction. In der Nähe dieser kleinen Ortschaft hat Martin über Warm Showers eine Unterkunft organisiert. Aber statt durchzufahren, entschließen wir uns spontan an einem traumhaften Platz am Sulfur Lake unser Lager aufzuschlagen – einschließlich Bad im See und nächtlichem Besuch eines Elchs (den ich leider verschlafen habe – aber Videobeweis durch Martin).
Die kostenlosen Zeltplätze sind oft die besten!
Der Weg nach Haines Junction ist schnell zurückgelegt und hier ist ein Besuch in der Village Bakery Pflicht – teuer, aber unglaublich lecker! Danach fahren abseits der Hauptstraße zur Farm von Jin, eine junge australische Försterin, die sich hier im Nichts ein schickes Haus – mit einem chaotischen Drumherum - gebaut hat und Radler auf ihrem sehr speziellen Anwesen aufnimmt. Absolutes Highlight ist für mich die Dusche in einem mückensicheren Pavillon mitten im Wald, wohin man das Wasser im Kanister tragen muss, dann auf einem Gaskocher in einem großen Topf auf die gewünschte Temperatur erhitzt und mit einem akkubetriebenen Duschkopf der Körperpflege im Freien frönen kann 😊 Die Unterkunft selbst ist – hochtrabend formuliert – eher ein Glamping. Ich ziehe es vor, mein Zelt aufzuschlagen, was durch den nächtlichen Regen umgehend gestraft wird. Dafür sind aber ein leckeres Bison Stew und interessante Geschichten über Bären, Elche, Bisons und Wölfe in der Gegend inbegriffen.
Warmshowers zum Selbermachen - "Organic Farm" im Nirgendwo
Der leichte Regen hat die Piste zurück nach Haines Junction in eine schmierige Ruschbahn verwandelt und mein am Tag zuvor bei strahlendem Sonnenschein vom Dreck befreiten Fahrrad ist am Ende so verschlammt, dass ich im Ort zwei Dollar investiere und den gröbsten Lehm mit einem Hochdruckreiniger abspüle. Der Regen wird stärker und dazu ist es auch noch lausig kalt. Unser Frühstück in der Village Bakery wird dadurch zum Tagesprogramm und erst gegen Abend bauen wir, ohne den Ort zu verlassen zu haben, unsere Zelten auf dem Gelände eines stillgelegten RV Parks auf. Eigentlich wollten wir die Strecke nach Whitehorse in zwei Etappen aufteilen. Aber die Bedingungen sind gut und wir ziehen die 162 Kilometer mit einigen kurzen Pausen durch (wenn man sich nach drei Wochen den Schorf vom Sitzfleisch gekratzt hat, sind 8 ¼ Stunden im Sattel nicht mehr ganz so schmerzhaft 😉) und sitzen um 19.30 Uhr in einem urigen Restaurant und belohnen und mit einem guten Abendessen für die Anstrengungen des Tages, bevor wir auf dem städtischen Campingplatz für zwei Nächte einchecken.
Wilde Tiere am Wegesrand gibt es natürlich zuhauf - leider nur nichts Großes
Nach 162km von Haines Junction ist die Hauptstadt von Yukon Territory erreicht
Der 1. Juli ist Nationalfeiertag – Canada Day – und ganz Kanada feiert, auch wenn die Geschäfte ganz normal geöffnet haben. Aber wie bei meinen bisherigen Reisen in diesem großen und großartigen Land, erlebe ich die Feiern anlässlich der Staatsgründung als entspannt, bunt und fröhlich – und alle machen irgendwie mit, unabhängig von der ursprünglichen Herkunft.
Eigentlich – Sätze, die so beginnen, haben meistens kein gutes Ende. Eigentlich wollte ich Reisen endlich einmal ohne jeden Zeitdruck genießen und mich nach vielen Reisen mit einem festen Zeitpunkt, an dem ich wieder zurück sein musste, in aller Ruhe angehen. Dann aber kommen mir Google, Komoot und andere Routenplaner in die Quere. Denn in Vancouver steht Susannes erster Besuch auf der Reise auf dem Programm und irgendwann müssen Flüge und Mietwagen gebucht werden. Deswegen versuche ich eine grobe Kalkulation, wie viel Strecke noch vor mir liegt und wie lange ich dafür brauche. 1600km kommt bei verschiedenen Routenplanern dabei raus. Das ist ungefähr die Entfernung von Prudhoe Bay nach Whitehorse und in drei Wochen sollte das entspannt zu machen sein. Die Flüge sind gebucht und ich gebe die Route erneut bei Komoot ein und zu meinem Entsetzen kommen jetzt ca. 2500km dabei heraus. Das ist in den drei verbleibenden Wochen machbar, allerdings wird es ein harter Ritt, der keine Pausen mehr zulässt.
Da Martin eine andere Strecke fahren und auch noch einen Tag länger in Whitehorse bleiben will, verabschieden wir uns herzlich und setzen unsere Fahrt getrennt fort in der großen Gewissheit, dass wir uns irgendwo auf dem Weg Richtung Süden wieder treffen werden.
Ich bin zurück auf dem Alaska Highway. 125 – 130km täglich sind mein Ziel, um etwa zeitgleich mit Susanne in Vancouver einzutreffen – ohne einen einzigen – Ruhetag. Das wird hart, denn ebene Streckenabschnitte gibt es auf dem Weg nicht. Sechs Tage bleibe ich auf dem Alaska Highway. Vor drei Jahren bin ich auch auf dieser Strecke unterwegs gewesen. Nachdem ich Whitehorse verlassen habe, nimmt der Verkehr allmählich ab und ich fahre wieder durch endlose Wälder und nur wenige Orte sind mir in Erinnerung geblieben. Dafür finde ich unterwegs traumhafte Plätze zum Übernachten entweder auf Campingplätzen der Povicial Parks oder irgendwo an einem Fluss oder See.
Da es unterwegs kaum Infrastruktur gibt, nutze ich natürlich jede sich bietende Gelegenheit, um mich zu versorgen. Einer der Orte, an die ich mich erinnere, ist die „Continental Divide Lodge“, die andere Radler in den höchsten Tönen lobten. Meine Erinnerung ist nicht mit dem hochtrabenden Namen, aber mit der Location verbunden. Sie sieht innen und außen noch genauso aus wie vor drei Jahren und der Service ist ähnlich, naja, sagen wir einmal bescheiden. Immerhin bekomme ich hier auch für 10 $ eine Dusche in einem abseits gelegenen Container. Den Zustand dieser Einrichtung will niemand genauer wissen. Aber immerhin nach einigen Tagen wieder einmal gründlich abgespült.
Nicht alle Raststätten in den Weiten des Yukon Territory haben die Covid-Zeit überstanden
Es gibt kein Bild von der Dusche - die will niemand sehen!!!
Nach sechs Tagen und zum Teil lausig kalten Temperaturen und viel Gegenwind erreiche ich Watson Lake. Bis hierher muss ich eigentlich nicht, weil ich 20km vorher auf den Cassiar Highway abbiegen will, allerdings gibt es auf diesem Highway auf 750km kaum Versorgungsmöglichkeiten und deswegen muss ich in Watson Lake erst einmal meine Vorräte auffüllen. Watson Lake ist der Ort mit dem weltberühmten Sign Post Forest – mehr als 80.000 Schilder aus aller Welt sind hier von Reisenden hinterlassen worden, auch sehr viele aus Deutschland, und ich weiß bis heute nicht, wo man bei uns Ortstafeln kaufen kann, um sie nach Kanada mitzunehmen! Angefangen hat das ganze übrigens mit einem amerikanischen Soldaten, der beim Bau des Highways im 2. Weltkrieg aus lauter Heimweh ein Schild aus seiner Heimat an einen Pfahl gehängt hat. Einkaufen, essen, ein paar schnelle Fotos vom Schilderwald und dann zurück zur Einmündung des Cassiar Highway, um dort auf einem stillgelegten Campingplatz zu übernachten.
Ca. 80.000 Schilder sind es mit den Jahren geworden. Irgendwo in Deutschland gestohlene Schilder sind deutlich überrepräsentiert...
Am Ende der ersten Etappe auf dem Cassiar Highway erreiche ich Jade City. Keine Stadt, sondern nur ein Jadesteinbruch mit einem Souveniershop (alles Jade). Immerhin gibt es hier einen kostenlosen Kaffee und Internetzugang, ein paar Snacks, die Möglichkeit frei zu zelten und die Wasservorräte aufzufüllen. Die nächste Station auf dem Weg nach Süden ist Dease Lake, ein richtiger Ort, wo ich auch noch einmal meine Vorräte ergänzen kann. Man kann hier sogar Essen gehen – an zwei Schnellimbissständen im Ort, von denen eine ausverkauft ist und der andere eine Wartezeit von einer Stunde für einen Burger hat – so viel zu Fastfood. Nach der Übernachtung in einem RV Park, der eigentlich keine Zeltplätze anbietet, geht es wieder auf den Highway.
Ein exklusiver Fahrradständer aus massiver Jade, Jadebruch zum mitnehmen und ein Eichhörnchen auf der Waage, das sein Gewicht offenbar deutlich überschätzt - Jade City, irgendwo am Cassiar Highway
Der kommende Tag ist nichts für Schönwetterfahrer. Nachts hatte es geregnet und ich muss mein Zelt nass einpacken. Und der Regen begleitet mich auch am Tag über weite Strecken. Dazu bläst mir ein eisiger Wind ins Gesicht und ich muss über den 1241m hohen Gnat Pass. Auf dem Anstieg fallen die Temperaturen immer weiter und landen schließlich bei 3,4° C, die sich durch den Wind noch viel kälter anfühlen. Ich muss zusätzliche warme Sachen anziehen. Ausgerechnet als ich mit freiem Oberkörper im Regen und Wind stehe und ein Funktionsshirt anziehen will, kommt eine Polizeistreife vorbei und fragt, ob alles in Ordnung ist – seine Gedanken hätte ich in diesem Moment gern lesen können. Auf der Passhöhe kommt dann noch ein Hagelschauer dazu. Normalerweise hätte ich jetzt irgendwo an einem halbwegs geschützten Ort mein Zelt aufgebaut und auf bessere Bedingungen gewartet, aber ich habe ein Date in Vancouver… Immerhin wird es wieder wärmer, als ich die Passhöhe hinter mir habe.
Und irgendwann nach dem Regen kommt wieder Sonnenschein und man sieht die Landschaft...
Drei Tage brauche ich bis Meziadin Junction, dem nächsten Ort, wo es Versorgungsmöglichkeiten gibt. Auf dieser Strecke ändert sich der Wald links und rechts neben der Straße: Die Bäume sind auf einmal wirklich groß und damit auch lukrativ für die gigantische kanadische Forstwirtschaft und von nun an teile ich den Highway mit Holztransportern, die meistens mit gutem Abstand an mir vorbeidonnern. Meziadin Junction ist dann auch mehr ein Arbeitercamp als ein Ort. Die Tankstelle bietet nur Getränke und Snacks an und das Restaurant nebenan hat den Charakter einer Werkskantine, bietet aber deftiges Essen für schwer arbeitende Männer aus Fortwirtschaft und umliegenden Minen an. Nur wenige Kilometer weiter gibt es eine Provincial Park Campground, den ich für die Nacht ansteuere. An der Einfahrt dann ein großes Hinweisschild, dass man zurzeit keine Zelte oder andere weiche Unterkünfte akzeptiert! Der Grund dürften die vielen Bären in der Gegend sein, vor denen immer wieder gewarnt wird und von denen ich unterwegs auch schon einige gesehen habe. Trotzdem muss ich irgendwo mein Zelt aufschlagen und fahre weiter zum nächsten, funkelnagelneuen Rastplatz. Im strömenden Regen baue ich dort mein Zelt hinter den Toiletten und den Müllbehältern auf, der einzige Platz, der nicht asphaltiert ist. Und ich habe die Möglichkeit meine Lebensmittel bärensicher außerhalb des Zeltes unterzubringen: Ein anderer Radfahrer hatte mir den Tipp gegeben, diese von der Rückseite in die bärensicheren Müllbehälter zu stellen. Und sauber sind sie auch, da der Müll in Plastiksäcken landet. Das gibt immerhin ein bisschen Sicherheit für die Nacht. Von hier ist es nur noch eine Tagesetappe bis Kitwanga am Yellowhead Highway mit gepflegtem Campingplatz und der Möglichkeit, meine Sachen in die Waschmaschine zu stecken und zu trocknen – ist auch dringend nötig.
Bären sind hier einfach ein Dauerthema und wie man mit ihnen und seiner eigenen Sicherheit umgeht. Einige habe ich auch aus nächster Nähe zu Gesicht bekommen, glücklicherweise waren sie immer kooperativ, obwohl die Bärenmütter teilweise recht unentspannt geschnauft haben, womit sie ihren Nachwuchs in die Bäume trieben. Biber, Füchse und angriffslustige Kragenhühner haben meinen Weg auf dem Cassiar Highway gekreuzt, wobei ich Augenzeuge wurde, wie die Taktik der Kragenhühner, ihre frisch geschlüpften Küken durch Scheinattacken zu beschützen gegenüber schweren Pickups tödlich enden kann.
Auch den Yellowhead Highway bin ich schon einmal gefahren. Das war bei meiner ersten Tour in Kanada vor 17 Jahren und nach meiner Erinnerung waren es damals 1000km von Jasper nach Prince Rupert durch nichts als Wald, mit Prince George als einzige richtige Stadt auf der Strecke. Entweder habe ich aufgrund von sehr viel mehr Erfahrung in den zurückliegenden 17 Jahren eine andere Wahrnehmung von „Nichts“ oder die Orte auf der Strecke haben sich in der Zwischenzeit rasant zu schmucken kleinen Städten entwickelt, die die Reisenden mit vielfältigen Angeboten und guten Infrastruktur zum Bleiben animieren wollen. Die Möglichkeiten zum Übernachten und sich zu versorgen sind im Vergleich zu den zurückliegenden zehn Tagen geradezu luxuriös. Allerdings wird mir in Vanderhoof, das sich auf seiner Ortstafel als geografischer Mittelpunkt von British Columbia bezeichnet, noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass noch sehr viel Strecke vor mir liegt. Unglaublich ist dabei die Zahl der Holzlaster und die Dimension der Sägewerke, die sich teilweise über Kilometer erststrecken und häufig einen eigenen Bahnanschluss haben. Leider konnte ich deren Größe nie richtig im Bild einfangen.
Nur einer von hunderten Holztransportern, mit denen ich die Highways teilen mussten - und das Sägewerk ist einer der ganz kleinen Sorte!
Prince George ist für hiesige Begriffe schon fast eine Großstadt, die ich diesmal allerdings links liegenlasse und den Yellowhead Highway verlasse, um auf dem Caribou Highway wieder in südliche Richtung die letzten 800km bis Vancouver zu fahren. Nach zwei Tagen erreiche ich den kleinen Ort Lac la Hache, der sich über fast 20km am gleichnamigen See zieht. Dort übernachte ich auf dem Campingplatz des Provincial Parks. Spät am Abend kommt eine Mitarbeiterin der Parkverwaltung, um die 18 $ Gebühr zu kassieren. Ihr Englisch ist stark von einem vertrauten Dialekt geprägt: Sächsisch! Sie ist vor Jahren nach Kanada ausgewandert und führt mir deutlich vor Augen, dass man nicht vor sich selbst weglaufen kann, denn bei fast allem, was sie mir über das Land und ihr Leben in Kanada erzählt, kommt eine negative Grundstimmung zum Ausdruck und ich weiß wirklich nicht, was sie erwartet hat, als sie Deutschland verließ. Immerhin gibt sie mir den Tipp auf eine deutsche Bäckerei im Ort, wo es gute Backwaren gibt – stimmt soweit, nur Schwarzbrot gibt es auch hier nicht.
Es führt kein Weg dran vorbei - vor allem leckere Kuchen finden ihren Weg in meine Packtaschen
Nach den endlosen Wäldern der letzten Wochen fahre ich inzwischen immer häufiger durch Farmland. Und auch die Ortschaften werden größer und immer gepflegter als im hohen Norden. Jetzt spielt auch das Wetter wieder mit. Es wird wärmer und zeitweise fahre ich mit gutem Rückenwind längere Etappen. Je weiter ich mich Vancouver nähere, desto mehr ändert sich das Landschaftsbild. Ich fahre im weiten Tal des Thompson River, wo großen Rinder- und Gemüsefarmen das Bild prägen. Das Tal zieht sich dann immer weiter zusammen und die Landschaft wird immer karger und bizarrer. Aus dem Tal wird schließlich ein Cayon und spätestens, als ich den Frazer River erreiche, ist aus dem weiten Tal eine enge Schlucht geworden. Nicht nur die Straße folgt den Flüssen, sondern auch zwei Bahngleise unmittelbar an beiden Flussufern, da die oft kilometerlangen Züge, die hier in enger Taktung langsam durch das Tal rollen, keine großen Steigungen überwinden können. Deswegen geht es auf der Straße wieder einmal umso mehr rauf und runter und obwohl es eigentlich nach Vancouver „nur bergab“ geht, kommen täglich noch einmal mehr als 1000 Höhenmeter zusammen. Nachdem ich das Hell’s Gate mit einer Seilbahn in die Schlucht passiert und Agassiz erreicht habe, bin ich in der Ebene im Großraum Vancouver angekommen.
In den Tälern und Schluchten des Thompson und der Frazer River, die an beiden Ufern von Eisenbahngleisen begleitet werden, ändert sich das Landschaftbild dramatisch und für die Nacht bleibt nur ein Platz in einem alten Steinbruch, wo herunterpolternde Steine nicht gerade einen entspannten Schlaf zulassen
Erstmals auf der Reise kommt das Navi zum Einsatz und weitgehend auf Nebenstraßen erreiche ich Hochbrücke über den Frazerriver und bin dann mitten im Großstadtverkehr Vancouvers angekommen. Da es bereits auf den Abend zugeht, ist der Berufsverkehr weitgehend durch und ich fahre mehr als 20km teilweise auf dem Seitenstreifen autobahnähnlicher Straßen ohne einmal abbiegen zu müssen bis in die Hochhausschluchten der Innenstadt. Jetzt noch ein paar Nebenstraßen und ich bin mit einen Tag Verspätung in der Unterkunft in Burnaby angekommen, wo ich von Susanne erwartet werde. Das Einzelzeitfahren hat ein Ende und ich nach 4500 km dringend eine Pause nötig, die wir in den nächsten zwei Wochen gemeinsam in Vancouver und auf Vancouver Island – ohne Fahrrad – verbringen werden.
Die nächsten beiden Tage verbringen wir damit, uns Vancouver anzusehen. Diese Stadt ist einfach faszinierend und gilt stets als eine der lebenswertesten Großstädte der Welt. Gut, ich bin kein Großstadtmensch und könnte mir nicht vorstellen, hier zu leben. Auch wenn ich vieles von dem, was ich auf meiner Reise von 17 Jahren gesehen habe, vergessen habe, Vancouver ist noch genauso sauber, modern und entspannt, wie ich die Stadt seinerzeit erlebt habe – nur ist sie inzwischen deutlich gewachsen und überall entstehen neue, moderne Hochhäuser, denn Kanadas Bevölkerung wächst jährlich durch Einwanderung um ca. ein Prozent, und das nicht in den Weiten des Nordens, sondern in den Wirtschaftszentren. Natürlich bleibt es bei einer so kurzen Stippvisite nur bei oberflächlichen Eindrücken, aber der Mietwagen ist gebucht und nach der Übernahme geht es mit der Fähre zum eigentlichen Ziel unserer gemeinsamen Zeit in Kanada: Vancouver Island.
Von Twawwassen setzen wir mit der Fähre nach Victoria, der Hauptstadt der Provinz British Columbia über. Die Stadt ist Kontrastprogramm zu Vancouver – ähnlich wie der Unterschied zwischen Toronto und Ottawa (nur kleiner). Teilweise wirken die Gebäude und insbesondere das Parlament very British. Der Stadtkern ist extrem herausgeputzt und man hat das Gefühl, dass die Uhren hier anders gehen.
Zum Pflichtprogramm auf Vancouver Island gehört natürlich eine Whale Watching Tour, und uns war empfohlen worden, diese von Victoria aus zu starten. Gesagt, getan und für einen stattlichen Preis fahren wir bei sehr guten Bedingungen für einen halben Tag auf den Pazifik hinaus. Ja, wir haben welche gesehen: Buckelwale, Orcas und dazu noch Delfine und Seehunde. Hier ein paar Beweisfotos:
Wir verlassen Victoria und reisen ohne festen Plan über die Insel. Zuerst an die sehr einsame Westküste, wo es teilweise sehr weite Strecken nur staubige Schotterpisten gibt. Auf einer solchen Straße erreichen wir nach Stunden Bamfield, einer der beiden Start- und Endpunkte des berühmten und sehr anspruchsvollen West Coast Trails. Zum Abendessen müssen wir mit dem Wassertaxi über eine kleine Bucht in einen nicht auf Straßen erreichbaren Ortsteil übersetzen. Im Restaurant werden wir gleich mit dem Hinweis begrüßt, dass wir gerade einen Schwarzbären mit zwei Jungen verpasst hätten, der am Ufer mitten im Ort nach Futter gesucht hat. Als unser Wassertaxifahrer uns wieder abholt, erzählt er, dass er die kleine Familie ebenfalls gerade gesehen hat und statt uns auf direktem Weg zurückzubringen, sucht er mit Erfolg noch einmal das Ufer ab und aus nächster Nähe können wir die drei Petze beobachten, wie sie am Ufer und in Gärten nach Freßbarem suchen, bis ein Hund sie in die Bäume treibt.
In Bamfield geht es entweder nur mit der Fähre weiter, oder man muss über Port Alberni zurück an die Ostküste der Insel. Auf dem Weg dorthin kommt man durch die Cathedral Grove, einem geschützten Waldstück, der zu den weniger als vier Prozent Primärwald auf Vancouver Island gehört, der nicht unter die Säge der Forstindustrie (über deren Dimensionen ich ja schon berichtete) gekommen ist. 400 – 800 Jahre alte Douglasien und Rotzedern lassen einen ehrfürchtig nach oben blicken und man bekommt einen kleinen Eindruck davon, wie die Wälder hier ausgesehen haben müssen, bevor vor ca. 150 Jahren Europäer anfingen, Axt und Säge an diese Giganten zu legen, bis fast keine mehr übrig waren und heute nur noch Kleinholz gefällt und verarbeitet werden kann (das immer noch beeindruckend genug ist). Wo es noch große und wertvolle Stämme in entlegenen Bergregionen gibt, werden diese z. T. bis heute gefällt und mit Hubschraubern herausgeholt (Helilogging) – unbegreiflich!
Auf ganz Vancouver Island und auch dem Festland gilt weitgehend ein absolutes Verbot, Lagerfeuer anzuzünden (für viele Kanadier ein ablusutes Muss auf dem Campingplatz), weil es aufgrund der Hitze der letzten Wochen vielerorts knochentrocken ist. An unserem letzten Tag auf Vancouver Island kommen wir noch einmal durch Cathedral Grove und kurz danach sehen wir, wie ernst es mit der Waldbrandgefahr ist. Ein ganzer Berghang steht in Flammen und der Rauch beißt in der Nase. Es bleibt zu hoffen, dass das Feuer schnell gelöscht wird, bevor es die Baumriesen erreichen kann. Auch wenn sie durch ihre dicke Rinde gut gegen Waldbrände geschützt sind, möchte man sich den Schaden nicht vorstellen.
Zurück an der Ostküste bietet sich uns am Ortseingang von Campbell River ein ganz besonders Schauspiel. An einem Bootsslip haben Angler die Überreste von ausgenommenen und filierten Lachsen am Ufer zurückgelassen. Ein Fest für mindestens sechs Weißkopfseeadler und zahlreiche Geier und Möwen. Aus nächster Nähe werden wir Zeugen, wie die Hackordnung unter den Vögeln ist – Alder, Geier, Möwe, andere – und die Kamera läuft heiß. Nach einer Wanderung zu den Elk Falls, wo es neben dem Wasserfall auch noch einige Baumriesen zu bestaunen gibt, checken wir in einem B&B der besonderen Art ein, dem Haig-Brown-Heritage-House B&B, das Teil des örtlichen Museums ist und wo zwei Gästezimmer vermietet werden – und vieles mit der Einrichtung und in dem Ambiente des ehemaligen Bewohners, eines kanadischen Schriftstellers und Naturschützers, der bis zu seinem Tod im Jahr 1976 hier lebte.
Die letzte Station im Norden der Insel ist Telegraph Cove, ein kleiner Ort um einen geschützten Naturhafen gebaut mit kleinen Häusern auf einem Holzsteg um die halbe Bucht. Leider ist die Hälfte der Häuser im Winter mit dem Steg durch ein Feuer vernichtet worden und gleichzeitig der Charme des Ortes, auch wenn man jetzt dabei ist, alles wieder originalgetreu zu rekonstruieren. Hier entschließen wir uns spontan, für einen üppigen Preis eine Grizzlytour mitzumachen. Start morgens um 06.30 Uhr, Dauer acht bis neun Stunden, wobei die meiste Zeit für die Fahrt in die Insel- und Fjordwelt zwischen Vancouver Island und dem Festland draufgeht. Mit der Ebbe erreichen wir unser Zielgebiet gegen Mittag und haben das Glück, aus der Nähe, aber in der Sicherheit des Bootes erst einen jungen Grizzly und später dann noch eine Bärenmutter mit ihrem Jungen beobachten zu können. Es ist einfach faszinierend zu erleben, wie diese mächtigen Tiere mit einer fast spielerisch wirkenden Leichtigkeit große Steine wegrollen, um darunter nach Futter zu suchen. Als Zugabe gab es auch noch Buckelwale, Orcas, Seehunde, Delfine und verschiedene Seevögel.
Bevor wir uns auf den Rückweg zum Festland machen – zwei Wochen sind schnell vorüber – steht noch ein Ausflug nach Tofino und Ucluelet. Die Gegend um Tofino ist das Pendent zu Sylt mit Kampen, zumindest was das Preisniveau angeht. Die Lage ist tatsächlich spektakulär. Auf der einen Seite der offene Pazifik mit den besten Sandstränden von ganz Vancouver Island, was den Ort zu einem Surferparadies macht, auf der anderen Seite der Halbinsel eine geschützte Fjord- und Inselwelt für Motorboote und Kajaks. Die Übernachtungspreise sind so utopisch hoch, wenn man denn kurzfristig überhaupt etwas findet, dass wir in Port Alberni in einem B&B einchecken und nur eine Tagesausflug an die Küste machen – ca. 15 Grad Temperaturunterschied auf 100km inbegriffen. Nach Wanderungen im Nationalpark und an der Küste geht’s zurück in die Unterkunft und dann treten wir den Rückweg auf das Festland an, wenn wir denn einen Platz auf einer Fähre bekommen.
Übrigens: Bei 13,8 Grad Wassertempertur im offenen Pazifik wagen sich nur die allerwenigsten ohne Neo ins Wasser - ich nicht!
Der gemeinsame Urlaub mit Susanne neigt sich dem Ende entgegen und ich werde wieder das Auto gegen mein Fahrrad eintauschen und allein weiterziehen. Von Vancouver ist es nur ein Katzensprung bis an die Grenze der USA und dort geht's dann erst einmal an der Küste weiter Richtung Süden. Jetzt hoffentlich ohne Zeitdruck, denn eigentlich sollte diese Reise ja ganz entspannt sein.
Der Kleinwagen in der Mitte war unser Fortbewegungsmittel der letzten 10 Tage - funkelnagelneu, aber ein Fahrrad mit Gepäck von zwei Personen passt gerade so eben hinein...